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[Elegie eines Träumers] Lloyd Gilligans Tagebuch


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Hier finden Lloyds persönliche Gedanken einen Platz um sich auszubreiten. Ein kleines abgenutztes Büchlein, klein genug um es in eine Brusttasche eines Jacketts zu stecken und auch noch einen Kugelschreiber daneben zuzulassen, groß genug um Platz für Notizen, Strategien und andere Spielereien zu haben: Genau das Richtige für Lloyd. Es ist wenige cm dick, sieht jedoch recht ramponiert aus, oft geknickt, Eselsohren, leicht vergilbt: Es ist ein geliebtes Buch.

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Leute, Leute, Leute, - kommt mit euren Taschen voll Glück. Lasst euch weiter von mir ausnehmen, sonst muss ich bald weiter ziehen. Ich mag NY. Wirklich. Ist aufregend hier. Alle sind beinahe hysterisch, wenn es um ihren Zeitplan geht, sie sind unaufmerksam, naiv, ein wenig dumm. Macht Spaß wieder zu spielen. Und den Leuten macht es auch nichts aus. Eigentlich eine gute Mischung. Die Cops sind genauso wie ihre Küken.

 

Trotzdem ist hier auch viel Unschönes in der Stadt. Kerle - und ich könnte mal einer davon sein! - werden ausgeraubt, wie unehrenhaft, nur Glücklose werden zu Dieben. Ich habe das nicht nötig. Es gibt auch Mord, Entführungen von Mensch und Tier! Überall hängen diese dämlichen Poster:

 

Entlaufen! Perserkater, 5 Jahre alt
hört auf den Namen Paul
er ist oft unruhig, manchmal traurig
zahlen hohe Belohnung
$$$$$$
wählen Sie 764, warten Sie auf den
Piepton, geben Sie Ihre Nummer an
Gott segne Sie für Ihre Hilfe

 

Auch dieses Jucken hinter den Augen wiederholt sich. Habe einen Arzt konsultiert und der meinte, alles sei in Ordnung. Ach was! Wenn alles in Ordnung wäre, wäre ich nicht bei ihm! Aber gut. Das Jucken hört wieder auf. Der Arzt kann nur so seinen Terminplan durchhalten. Indem er die Sorgenvollen provisorisch durchcheckt und schnell wieder wegschickt. Zu dem gehe ich bestimmt nicht mehr.

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Ich habe sie also getroffen, die kleine Fee, die jetzt groß geworden ist. Das habe ich spüren müssen, ich habe fast keinen Bissen heruntergekriegt. Wenn ich es mir so überlege, dann muss es heute geschehen. Ich muss sie heute sehen und wir müssen uns wieder annähern, damit ich sie nicht ganz verliere. Sie ist nachtragend. Aber sie hat mich nicht vergessen. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?

Ich habe sie auch nicht vergessen. Als sie dreizehn war, trug sie zwei Rattenschwänze und sie hatte die strahlendsten Szene von allen Menschen, die ich je gesehen habe. Ich versprach ihr, sie würde jeden Jungen herumkriegen, und sie kicherte immerzu und knuffte mich dann in die Seite. Was ich wohl wirklich für sie war? Ein Beschützer, ein Freund, ein Fels? Was habe ich ihr durch mein Verschwinden genau angetan? Was habe ich ihr vielleicht erspart? Darüber habe ich bisher kaum nachgedacht ...

 

Es ist nie zu spät, um Reue zu zeigen, das sagte Mum, aber manchmal muss man die Schuld auch als solche akzeptieren. Und vielleicht auch, dass sie vonnöten war.

 

Nie als jemals zuvor muss ich mir im Klaren darüber sein, was ich war, was ich bin und was mein verdammtes Problem mit der Welt ist. Aber jetzt muss ich los. Sonst finde ich am Ende ihre Lieblingsblumen nicht in dieser verrückten Stadt. Das wäre ja ne schöne Scheiße.

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Ist das kein Beweis einer höheren Fügung?

 

Ich treffe meine kleine Schwester, nachdem ich geschworen habe, nur ein einziges Zeichen für eine neue Überzeugung ausreichen zu lassen. Ich träume von einem Mädchen wie meine Schwester auch, wie eine fremde Frau in der Stadt. Ein Unheil droht, Wandel liegt in der Luft, genau wie es die Karten vorhergesagt haben.

 

Ich vertraue mir nicht selbst, sagt sie.

 

Ich werfe bloß eine Münze, sagt sie.

 

Ich solle spielen, sagt sie.

 

Was bin ich geworden? Ich war frei; habe ich nicht mein altes Leben hinter mir gelassen, um nicht an das Schicksal glauben zu müssen? Für wen zur Hölle mache ich mir hier Gedanken? Ich mache es mir unnötig kompliziert. Ein Schwur ist kein Schwur, wenn niemand ihn hört. Und da ist niemand, oder? Wenn ich dieses alte Kreuz an meinem Hals berühre, spüre ich Kälte; ich bin allein. Ein Gott, der unser aller Schicksal lenken könnte, wäre nicht kalt, er würde brennen, denn dann würde man ihn spüren. Das ist doch alles Unsinn. Quatsch.

 

Die Frage ist: Wieviele Zeichen von einem Schicksal brauche ich noch, bis ich aufhöre wegzurennen? Die Wahl liegt darin zu laufen oder es zu akzeptieren. Wenn ich laufe, bin ich feige und lasse alle im Stich; ich würde mein Wort brechen. Wenn ich bleibe, bin ich ein wandelnder Widerspruch, so wie Amber sagt, aber ich halte mein Wort.

Versteht sie mich? Oder ist ihr Problem, dass sie nichts kapiert? Oder ist ihr Problem vielleicht, dass sie alles kapiert?

 

Ich brauche eine verdammte Aufgabe, soviel ist sicher. Wenn ich in meine Wohnung zurückkehre, würde ich vor Einsamkeit umkommen. Und diese Krankheit - wenn sie sich nun als harmlos entpuppt, wäre das auch egal - ist genau richtig. Ich bleibe bei Amber, denn ich denke nicht, dass ich sie einer weiteren Gefahr aussetzen möchte. Oder könnte. Sie tut äußerlich sehr stark und abgehärtet, aber ich weiß, was darunter liegt. Und das soll nicht verletzt werden. Sie soll nie mehr verletzt werden.

Amber hasst uns, das ist klar. Besonders mich. Vernünftige Frau, wahrt Distanz, in den kommenden Zeiten wohl von unschätzbarem Vorteil, sie hat Grips und eine Waffe. Der Hund wirkt treu - und gut abgerichtet. Kompensiert sie selber ihre soziale Isolation mit einem Tier, das ihr niemals den Rücken zuwenden würde? Ich werde sie aufsuchen, falls wir sie doch nicht wiedersehen, aber ich glaube es nicht wirklich. Wir alle drei sind in diese Sache verwickelt.

 

Cheryl ist die Knüpferin.

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  • 1 month later...

Ich denke nicht, dass ich jemals wieder ein Schwimmbad betreten kann, ohne an diesen Tag zu denken. Während ich geschlafen habe und auf den Weg zu Cheryls Eltern bin, habe ich versucht eine Chronologie in die Sache zu bringen. Unsere Ankunft, Kinderstimmen und dann? Nichts als Bilder, über die wir knirschend gerannt sind, links, rechts, hierhin dorthin. Fiona krabbelt in einen blutigen Lüftungsschacht (verrückt), ich werde von einem anormalen Kerl überfallen (verrückter), eine Gruppe von Lumpenmännern verfolgt uns (Wahnsinn). Ja alles klingt irre, aber zu sagen, dass es nie passiert ist, wäre der leichte Weg. Ich will diesen Pfad nicht bestreiten. Nein, ich kann mir eingestehen, dass alles so passiert ist - und dass die Reihenfolge nebensächlich ist.

 

In meinem Traum war Cheryl, was nicht sonderlich überraschend ist. Ich kann nicht mehr schlafen, ohne dass ich sie sehe. Was besonders war, war, dass sie aussah wie Fiona, als sie klein war. Sie hatte dieses Kleid mit den Zitronen drauf, nur waren es diesmal keine Zitronen, sondern Äpfel. Sie sprach nicht, irgendwie kann sie das ja auch nicht, doch ihre Präsenz beruhigte mein aufgebrachtes Inneres. Ich habe viel an mir gezweifelt, als ich aus dem Krankenhaus kam. Ich habe bitterlich geweint und nun schäme ich mich dafür. Sie schenkte mir ein Lächeln und ich wachte auf. Noch 6 Stationen. Dann werde ich ihre Eltern treffen. Ich hoffe, sie können mir helfen, wie ihre Tochter mir geholfen hat. Später vielleicht mehr.

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