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[Nightmare Files] Kapitel 7 - Immer a lll ein


Der Läuterer
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Der flehenden Blick der Frau brennt sich in Deinen Verstand.

 

Regen fällt und durchdringt Deine Jacke.

 

Zähflüssiger Regen... schleimig... rot schimmernd, beschienen vom brennenden Dorf der Einheimischen.

 

Der Boden ist zähflüssig... sumpfig... schlüpfrig und tückisch... trügerisch.

 

Die Luft riecht nach Rauch... verbranntes Holz und Stroh... nach angebranntem Sonntagsbraten und nach versengten Haaren.

 

Du liegst auf dem triefend-nassen Boden des Dschungels und beobachtest die grausige Szenerie... Blutegel haben sich an Deinen Unterarmen festgesaugt und laben sich an Deinem Ich...

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Ich meine das schwache Echo eines Rufs in meiner Erinnerung zu spüren. Hat dieser Ruf mich geweckt?

 

Ich hebe vorsichtig den Kopf und versuche mich zu orientieren. Keine Spur von Ruairí und Herbert. Aber ich sehe all die Schrecken um mich. Der nasse Boden wimmelt von Würmern und Schnecken und Egeln und schlimmerem Gezücht. Und alle fallen übereinander her und verzehren sich gegenseitig.

 

https://s3.amazonaws.com/figures.boundless.com/raw/20737/raw/el-als-schneckenparasit-04.jpe

 

Ich greife unter mein Hemd und packe in die wimmelnde Masse, ziehe einen Teil von ihr hervor.

 

http://nimbinwave.com/wp-content/uploads/2012/04/handfull_leeches.jpg

 

In den vom Feuerschein flackernden Schatten des Unterholzes verlöschen letzte wabernde Reste dieser manifesten Finsternis. Auch darin leben nun Geschöpfe, die manchmal am Rande der zerfallenden Finsternis schwach sichtbar werden, bevor sie vor der Berührung des Lichts zurückzucken und wieder in der Finsternis verschwinden. Was sich in der Finsternis windet, ist schlimmer als die wimmelnde Masse um mich herum. Leben dort ganz andere Wesen oder nehmen die Egel und Würmer, die Schnecken und Insekten in der Finsternis eine andere Gestalt an? Gierig recken Sie mir ihre Mäuler entgegen, aber mit der Finsternis werden sie unaufhaltsam hinweggezogen.

 

http://i.livescience.com/images/i/000/008/632/i02/trex-leech-100414-02.jpg?1296144525

http://www.fuchsjaeger-gerry.de/Seitenordner/parasiten/hakenwurm.jpg

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/2/28/Schistosome_Parasite_SEM.jpg/220px-Schistosome_Parasite_SEM.jpg

 

Benommen schließe ich die Augen und all diese schrecklichen Bilder verschwinden. Alleine IHRE Augen bleiben. Diese Augen, denen ich mich bereitwillig ergebe. Ich lasse mich fallen in diese Schwärze, die frei ist von Finsternis. Auf ihre Art ist diese Schwärze so rein wie das Weiß meines Zimmers.

 

"Wach auf Clive!", höre ich die weiche, tiefe Stimme der Frau in meinem Kopf sagen. Etwas an der Art, wie sie meinen Namen ausspricht, erinnert mich entfernt an meine Mutter. Bereitwillig gebe ich mich ihr hin: Ich öffne ihr erneut meine Seele.

 

"Bitte verzeih! Ich wollte Dir helfen ... aber ich war zu schwach ... ich habe versagt ... WIEDER versagt", stammle ich. Tränen rinnen über meine Schläfen, vermischen sich mit dem blutigen Regen und fließen herab in den Morast des Urwalds.

 

"Scht! ... Scht! ... Es ist ja gut! ... Du HAST mich doch gerettet!", tröstet mich die Stimme, während sie meine Seele wiegt. Nach einer Pause fährt sie fort: "Das Herz der Finsternis ist gegangen. Und in Dir hat ein Teil des Dorfes überdauert. Und darum hat das Herz der Finsternis noch nicht gewonnen."

 

Ich höre nur die Stimme. Und doch meine ich eine Bewegung in meinem Inneren zu erahnen, eine Geste, mit der die Frau amüsiert meine andere Gefährtin hinfort wischt. Ich spüre den eifersüchtigen Zorn, mit dem sich die verdrängte Gefährtin zurückzieht. Die Traurigkeit verschwindet aus meinem Geist, wie das Meer bei Ebbe. Ich weiß: Sie sammelt sich nur, um mit neuer Kraft zurückzukehren, um sich zu nehmen, was schon immer ihr gehörte, einer Sturmflut gleich. Sie soll es haben. Es macht keinen Sinn, sich den Naturgewalten entgegenzustellen. Aber ich genieße diesen Augenblick, gebettet im Schoß der sanften Stimme.

 

"Es tut mir wirklich leid, dass Du diese Bürde für mich tragen musst, Clive. Du bist ein guter Junge. Aber das Herz der Finsternis hat Dich berührt. Es hat ein wenig von seinem Gift in Dir hinterlassen. Und es hat Dich erkannt. Es wird Dir für den Rest Deines Lebens folgen. Bis es Dich verschlingen kann und mit Dir die Beute, die Du ihm in dieser Nacht genommen hast." Erneut streicht die Stimme zärtlich über meine Seele. "Aber das weißt Du ja schon lange! Du hast es alles bereits gesehen! ... Du solltest jetzt gar nicht hier sein. Du hättest nicht zurückkehren sollen. Viel zu viel Leid, das doch schon vor langer Zeit erduldet wurde! Es macht keinen Sinn, hierhin zurückzukehren."

 

Ich blicke in die Augen im Nichts. "Ich glaube, ich bin zurückgekehrt, weil es mich nun doch gefunden hat", flüstere ich. "Es wird mich nun verschlingen ... und Dich mit mir. Und die Contessa ... und Anderson auch, vermute ich. Ich habe ihnen den Tod gebracht. So wie ich auch Ruairí und Herbert und all den anderen den Tod gebracht habe." Ich sage dies voller Reue, aber dieses eine mal ausnahmsweise ganz ohne Traurigkeit. "Ich glaube, ich bin hier, damit wir alle gehen können. Den Kampf gegen das Herz der Finsternis habe ich jetzt verloren. Ich konnte ihn ohnehin nicht gewinnen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis meine Flucht enden würde. Aber", füge ich hämisch lächelnd hinzu, "Leopold ist tot. Er hat den Preis zuerst gezahlt!"

 

"Ich weiß es. Du vergisst, dass ich immer bei Dir war. Alles, was Du gesehen hast, habe auch ich gesehen. Alles, was Du getan hast, habe auch ich ein wenig mit getan.", belehrt mich die Stimme. Dann summt sie ein Lied und wiegt mich wieder. Fast ein wenig bedauernd fügt sie hinzu: "Ich würde Dich gerne weiter halten, bis die Sterne verlöschen und das ENDE VON ALLEM kommt. Aber noch ist es nicht so weit, Clive. Du bist noch nicht ganz am Ende Deines Weges angelangt. Ich wünschte, es wäre anders ..."

 

Da ist keine Traurigkeit in mir, die mir gestatten würde, die Enttäuschung und Müdigkeit mit Tränen fortzuspülen.

 

"Aber ich bin schon so weit gegangen! Ich bin alt und mein Körper ist schwach. Was soll ich denn noch tun? Was kann ich tun?"

 

"Du weißt doch, was Du als nächstes tun musst! Du hast es schließlich schon einmal getan. DU bist hierher zurückgekommen! Also bring es auch zum Ende!", tadelt mich die Stimme. "Mach jetzt die Augen auf. Du hast geruht. Jetzt musst Du weitergehen. Und ich werde Dich begleiten, wie ich es seit damals getan habe!"

 

"Ich kenne nicht einmal Deinen Namen!", rufe ich aus, als sich die Stimme in meiner Seele zu verlieren beginnt.

 

"Aber Clive!", lacht die Stimme. "Sei doch nicht dumm! Ich bin doch jetzt DU!"

 

Dann verstummt die Stimme endgültig. Ich horche in die Tiefen meiner Seele. Aber da ist nur das ferne Grollen einer Brandung, die frohlockend auf mich zurollt.

 

Mühsam öffne ich meine Augen. Ich blicke an mir herab. Auf meinem Körper sind unzählige Blutegel und Schnecken und andere namenlose Wesen, die von mir zehren.

 

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Der Arzt in mir überlegt, wie viel Blut ich verloren haben mag. Die Stimme, war sie nur die Folge einer Unterversorgung meines Gehirns? Nein, dies alles ist nicht real. Ich bin auf Herm, nicht in den Wäldern des Kongo. Ich lebe im Jahr 1927, nicht am Ende des 19. Jahrhunderts. Dies hier ist bedrohlich, auf seine Weise 'wirklich' und vielleicht auch gefährlich, aber nicht auf einer materiellen Ebene real. Und darum habe ich auch kein Blut verloren, was auch immer es ist, was dieses Gewürm aus mir gesogen hat.

 

Ich beschließe zu handeln, bevor die Flut über mir zusammenschlägt. Mühsam erhebe ich mich aus dem Morast. Das Getier fällt in Trauben von mir. Meine Falcata liegt neben mir im blutigen Wasser.

 

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Es tut gut, ihr vertrautes Gewicht in meiner Hand zu spüren und die blankgezogene Klinge leuchten zu sehen. Mit der scharfen Klinge der Falcata schabe ich die Tiere von meinem Körper.

 

Von der 'Force Publique' ist nichts mehr zu sehen und zu hören. Nur das Knistern des Feuers und das Zischen der Regentropfen, die in die Glut fallen.

 

Als ich meinen Körper gereinigt und meine Habseligkeiten eingesammelt habe, gehe ich zu der kleine Missionarskirche. Ich bin diesen Weg schon einmal gegangen, vor nunmehr fast dreißig Jahren.

 

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Wie damals beginne ich in der Kirche mit den Händen und mit meinem Messer zu graben. Ich grabe so lange, bis ich IHN gefunden habe. IHN, dem ich in meinem eisernen Tabernakel ein neues Heim gegeben habe.

Edited by Joran
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3. August 1916

5 Uhr 30 in der Früh

London, Pentonville Prison

 

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http://www.victorianlondon.org/prisons/pent01.gif

 

Ich folge dem grobschlächtigen Engländer in der Uniform, als er in einen Tentakel dieses menschenverschlingenden Kraken einbiegt.

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Schmerzhaft laut hallt der Schritt des Wärters vor mir durch den langen, hohen Gang.

 

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Die Luft ist schwanger von Angst und Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Schmerz, aber auch von Wut und Hass und dem Durst nach Gewalt. Diese Gefühle sind schwerer zu ertragen als die erniedrigende Untersuchung, die ich nach betreten des Gefängnisses über mich ergehen lassen musste.

 

Von irgendwo hallt gedämpft ein Schrei durch eine der Türen zu mir herab.

 

Der Schritt des Mannes vor mir verlangsamt sich für den Bruchteil einer Sekunde, gerät kaum merklich aus dem Takt. Und doch ist das Zögern gerade lang genug, um zu verdeutlichen, dass der Schrei registriert wurde. Einen Augenblick hebt sich der Kopf des Mannes und fixiert eine der unzähligen Türen. Die Hand des Mannes fährt zu dem schwarzen Stock an seinem Gürtel und ruht für den Rest des Weges nun auf ihm. Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken herab.

 

Die Reihen der Zellentüren zu beiden Seiten des Flurs scheinen nicht enden zu wollen.

 

Doch plötzlich bleibt der Mann stehen und tritt an eine der Türen heran.

 

Zunächst öffnet der Mann die Lade in der Tür und blickt in die Zelle. Was er sieht, scheint ihn zufrieden zu stellen. Er greift nach einem schweren Schlüssel an einer Kette und entriegelt das Schloss der Zellentür. Mit einem lauten Krachen schiebt er zuletzt routiniert einen eisernen Riegel zur Seite.

 

„Sie haben eine halbe Stunde!“, sagt der Mann einsilbig und sieht mich dabei verächtlich an. Dann öffnet er die Tür.

 

http://www.victorianlondon.org/prisons/pentonville2.gif

 

Sofort nachdem ich die Zelle betreten habe, fällt die Tür hinter mir wieder krachend ins Schloss. Der Riegel wird lautstark zugeschoben und ich höre das Geräusch des Schlüssels.

 

Aber da ist endlich Ruairí. Er stürzt mir nicht entgegen, sonder wirkt sehr gefasst. Lächelnd erhebt er sich von seiner Pritsche. Er scheint für seinen letzten Gang bereit.

 

An der Art, wie er sich bewegt, erkenne ich, dass er Schmerzen hat. Offenbar wurde es vermieden, dass sein Gesicht und seine Hände sichtbaren Verletzungen aufweisen.

 

„Alter Freund!“, begrüßt er mich und streckt mir die Hände entgegen. Die Wärme seiner Stimme macht es mir schwer, die Fassung zu bewahren.

 

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/63/Sir_Roger_Casement_%286188264610%29.jpg

 

„Ich bin gekommen, so schnell ich konnte. Aber es war schwierig! Ich war in Medina. Scherif Hussein bin Ali hat zu einem Aufstand gegen den Sultan aufgerufen. Die ganze arabische Halbinsel wird im Chaos zu versinken. Reisen ist nicht länger sicher.“

 

„Und doch bist Du gekommen. Es ist so schön, heute als letztes einen Freund und Weggefährten zu sehen. Ich wünschte, auch Herbert könnte heute hier sein.“

 

Einen Moment versinken wir jeder für sich in Erinnerungen. Bilder aus vergangenen Tagen steigen in mir auf.

 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/51/Ward_in_the_congo.jpg

https://en.wikipedia.org/wiki/Herbert_Ward_(sculptor)#/media/File:Herbert_ward_and_roger_casement.jpg

 

Ich denke zurück an die Zeit meiner ersten Begegnung mit Ruairí. Ich lernte Ruairí als Sir Roger Casement, Konsul von Lourenço Marques, kennen. In meinen Gedanken durchstreife ich wieder die Straßen der Stadt.

 

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Unweigerlich führt mich das auch in das Jahr 1900, als ich Ruairí und Herbert Ward in den Kongo begleitete. Die Regierung hatte ihn dorthin entsandt. Ruairí war mit einer Untersuchung betraut worden. Ich sollte Ruairí als Arzt zur Verfügung stehen, bei der Sammlung von Beweisen behilflich sein und als Mediziner über die Situation der Einwohner des Kongo berichten.

 

Aber ich dränge diese Gedanken zurück. Heute möchte ich nicht an den Kongo denken, egal wie sehr die gemeinsamen Erlebnisse dort unser beider Leben geprägt haben.

 

„Ruairí, was ist nur geschehen? Wie konnte es nur so weit kommen? Wir haben den Kongo überlebt, nur damit es so endet?“

 

„Sie haben meine Tagebücher gestohlen! Die Bände aus dem Kongo vor allem, aber auch andere. Und sie nehmen sich daraus, was ihnen gefällt. Teile haben sie gleich ganz vernichtet. Das, was sie schon in meinen Berichten nicht hören wollten, haben sie für alle Zeiten ausgelöscht. Aber Du und Herbert, ihr seid Zeugen. Darum werden sie es nicht für immer verheimlichen können.

 

Und sie werden auch die Unabhängigkeit Irlands nicht aufhalten können.

 

Du hättest Sir Frederick Smith als Staatsanwalt sehen sollen, wie er sich vor dem Geschworenengericht aufgeblasen hat. Er hat es genossen, auf diesem Wege alte Rechnungen zu begleichen. Dabei wollte er genau wie ich den deutschen Kaiser zur Intervention in Irland bewegen. Und dann wählen sie gerade ihn aus, um mich deswegen des Hochverrats anzuklagen!

 

Sie wollten mich erpressen, aber ich habe mich nicht gebeugt. Basil Thomson, dieses miese Schwein. Welche Bedeutung haben meine Neigungen schon angesichts dessen, was sie verschweigen! Der ganze Prozess war eine einzige Farce! Das Urteil stand fest, bevor die Verhandlung begonnen hatte!“

 

Ruairí hat sich verändert. Ich habe ihn nun mehrere Jahre nicht mehr gesehen. Da ist ein verzehrendes Feuer in seinen Augen. Fast meine ich, Flammen in seinen Augen auflodern zu sehen. Nicht die ruhige Flamme einer Kerze, sondern der Wiederschein der lodernden Feuersbrunst eines brennenden Waldes.

 

„Aber der Preis den Du zahlst…“, will ich meine Verzweiflung zum Ausdruck bringen.

 

„… ist nur der Preis, den wir alle früher oder später zahlen müssen.“, vollendet er meinen Satz. „Ich befinde mich damit in der besten Gesellschaft.“

 

Wir beide schweigen. Mir graut vor dem Moment der unaufhaltsam näher rückt. Wieder drängen Bilder aus der Vergangenheit hervor.

 

http://www.reunionblackfamily.com/BELGIUM%20HANG%20CONGOLESE.jpg

 

Plötzlich lacht Ruairí auf: „Weißt Du noch, wie Leopold den Preis gezahlt hat?“

 

Ich erinnere mich nur allzu gut.

 

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Ich wünschte, es wäre, wie es Vachel Lindsay unlängst beschrieb:

 

Listen to the yell of Leopold's ghost

Burning in Hell for his hand-maimed host

Hear how the demons chuckle and yell

Cutting his hands off down in Hell.

 

Aber ich habe keine Dämonen gesehen, die ihm die Hände abgeschlagen haben. Die Wahrheit war weitaus profaner.

 

Mir ist plötzlich übel.

 

„Du gibst doch Acht auf IHN, Clive?“, fragt mich Ruairí nach einer Weile. Er scheint mit seinen Gedanken in weiter Ferne zu sein.

 

„Ja! ER ist in Sicherheit. Ich habe IHM ein neues Heim gegeben. Dort werden sie IHN nicht finden.“

 

„Ich hätte IHN gerne noch einmal gesehen. … Wirst Du für mich einen Nagel einschlagen?“, bittet mich Ruairí. „Wer weiß. Vielleicht hilft ER ja auch mir. Du hast immer daran geglaubt, ganz gleich was Du gesagt hast. Und heute … nach all den Jahren … glaube ich, dass Du recht hast.

 

Ich werde nie verstehen, was damals bei dieser Kirche über Dich gekommen ist? Aber Du hast IHN gefunden. Und seitdem warst Du nicht mehr der gleiche Mensch, wie zuvor.“

 

„Das waren wir alle seit jener Nacht nicht mehr.“, erinnere ich Ruairí.

 

„Nein, das waren wir alle nicht…“, räumt Ruairí ein. Nach einer Weile fügt er jedoch gedankenverloren hinzu: „Aber bei Dir war es anders.“

 

Wir hören schwere, rhythmische Schritte auf dem Gang. Wir sehen uns an und wissen, dass es nun Zeit ist, Abschied zu nehmen.

 

Wir stehen auf und umarmen einander stumm.

 

Die Schritte verstummen vor der Tür. Der Riegel schlägt gegen die Sperre.

 

„Ich habe mir immer die Chance eines solchen Abschieds gewünscht.“, schießt es mir durch den Kopf.

 

Wir sehen uns ein letztes Mal in die Augen. Und ein Staunen zeichnet sich in Ruairís Gesicht ab. In der Spiegelung seiner Augen meine ich kurz nicht mein grünen, sondern ihre schwarzen Augen zu sehen.

 

Da wird die Tür aufgerissen und Ruairí blickt zur Seite.

 

„Sie müssen nun gehen. Sir Casement hat eine Verabredung“, höhnt der Wärter.

 

Bevor sich die Tür hinter mir wieder schließt, werfe ich Ruairí noch einen Blick zu und hebe die Hand zum Gruß:

 

„Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand!“, flüstere ich.

Edited by Joran
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17.03.1927

Ärmelkamal, ca. zwei Seemeilen vor der Insel Herm

Windstärke 7

 

Ich sehe die Küste von Herm vor mir aus dem Morgennebel steigen. Die Sonne lässt die Felsen hell erstrahlen.

 

Die Matrosen haben meinen schweren Überseekoffer und das weitere Gepäck bereits an Deck gebracht. Ich habe die Überfahrt auf der 'Cú Chulainn' genossen. Die Fahrt auf der schönen irischen Brigantine war für mich ein einmaliger Glücksfall.

 

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Ich sitze auf meinem großen Koffer, der Gehstock lehnt neben mir.

 

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Beschwingt durch die Reise auf dem Segler und erfrischt von rauen Wind blicke ich Hoffnungsvoll auf einen neuen Lebensabschnitt. Auf der Insel erwarten mich die ersehnte Ruhe und Abgeschiedenheit, die ich mir für meinen Lebensabend erhoffe.

 

Die Politik, den Großen Krieg, die Erlebnisse meiner Reisen, all dies werde ich weit hinter mir lassen. Keine Schrecken, keine Gewalt, nur ein Felsen inmitten der tosenden See.

 

Und die Menschen sind entweder Ärzte, denen ich erzählen werde, was sie hören wollen, oder Patienten, die ohnehin nichts von dem begreifen würden, was ich sagen könnte.

 

Ich blicke hoffnungsfroh in die Zukunft. Keine Spur von Traurigkeit heute morgen. Ich bin allein.

 

Ich taste beiläufig nach meiner Taschenuhr, dann greife ich in die Tasche, fahre die Kette entlang, bis ich den Schlüssel berühre.

 

Da ist noch etwas in meiner Tasche. Ein langjähriger Begleiter. Ich greife nach ihm und ziehe ihn hervor.

 

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Eine Patrone, Kaliber .38. Ein Schuss Munition für meine Lightning. Eine eiserne Reserve. Ich trage die Patrone seit meinem 17. Geburtstag bei mir, seit ... nun, für alle Fälle.

 

Aber ich habe das Gefühl, auf Herm wird das nicht nötig sein. Eine spontanen Laune folgend werfe ich das Geschoss über Bord. Ein leises Glucksen, ein leichtes Kräuseln des Wassers und das Stück Metall versinkt im Meer.

 

Ein neuer Abschnitt. Ein neuer Anfang. Keine Verwendung mehr für Munition.

 

Der Hafen kommt in Sicht. Keine Schiffe. Keine Menschen weit und breit, nur das Wrack eines gestrandeten Kutters.

 

Ich sehe, wie die Matrosen, das Beiboot bereit machen, um mich an Land zu bringen.

 

"Alles wird nun gut!", denke ich. "Hier wirst Du in Frieden alt und fett werden."

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Kongo-Freistaat, Privatbesitz von König Leopold II. von Belgien

In den Tiefen des Urwaldes

1900

 

Der Lehmboden bricht unter den Stößen meiner Messerklinge. Mit den Händen schaufele ich die Lehmbrocken aus der Grube, die sich langsam und stetig vergrößert.

 

Dann stößt die Klinge auf Holz. Der dumpfe Klag verrät einen Hohlkörper.

 

Vorsichtig beginne ich, das Objekt freizulegen. Über dem Holz befindet sich als Schutz ein Gewebe, dessen Material ich nicht kenne. Leise fluchte ich, weil ich kein besseres Grabungswerkzeug mit mir führe. Doch in der kleinen Kirche klingt meine Stimme in meinen Ohren unnatürlich laut und fremd. An diesem stillen Ort wird nie wieder gesungen werden. Hier regieren nur noch Tod und Verfall. Bald schon wird der Urwald das Land zurückerobern. Die Pflanzen werden alles in ihre Schatten tauchen und der Finsternis Obdach gewähren. Dann wird man von dem Dorf und dieser Kirche nichts mehr erkennen. Die Kautschukranken werden wachsen. Es werden neue Sklaven kommen, die für Leopold das Land bluten lassen.

 

Um nichts zu beschädigen, grabe ich nur vorsichtig weiter. Schließlich ertaste ich die Außenränder des rechteckigen Gegenstandes. Seitlich ist die Erde weicher und lässt sich leicht entfernen.

 

Als ich das Gewebe mit meinem Messer aufschneide, kommen Schnitzereien zum Vorschein. Ich bin meinem Ziel nun nahe.

 

Unter dem Tuch kommt eine schwere Truhe zum Vorschein.

 

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Ich zögere einen Augenblick, wische mir den Schweiß von der Stirn und betrachte die Schnitzereien. Schmerzlich wird mir bewusst, dass ich die Truhe hier zurücklassen muss. Sie ist zu schwer, um sie aus der Grube zu heben und durch den Wald zu tragen. Alle die Mühe und Kunstfertigkeit, die auf die Fertigung der ausdrucksstarken Bilder verwandt wurde, wird umsonst gewesen sein. Die Insekten des Waldes werden das Holz zerfressen, die Finsternis wird bald in die Grube spülen und alles darin verschlingen. Die Blüten als Ausdruck der wilden Fruchtbarkeit dieses Landes werden vergehen. Die Abbilder der Frauen bei der Ernte auf dem Deckel der Truhe werden ihren toten Vorbildern nachfolgen.

 

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„Warst Du eine von ihnen?“, frage ich in mich hinein, aber die Stimme bleibt stumm. Eine Weile betrachte ich nur die Frauen. Tränen rinnen meine Wangen herab; ich bin nicht mehr allein. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, bis die Traurigkeit mit eifersüchtigem Zorn zurückkehren und mich verschlingen wird.

 

Und doch finde ich hier inmitten von Tod, Verzweiflung und Verderben ein Gefäß der Fruchtbarkeit und des Lebens. Sprachlos und verwirrt blicke ich auf. Über mir hängt noch immer das Kreuz an der Wand. Und Christus blickt zu mir herab.

 

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Er scheint mich direkt anzusehen, als wollte er sein Versprechen bekräftigen: Auf den Tod folgt das Leben!

 

Die Truhe wurde an genau dieser Stelle in seine wachsame Obhut gegeben.

 

„Ich werde Deinen Leib in diese Truhe betten“, verspreche ich in die Stille in mir.

 

Dann gebe ich mir einen Ruck und hebe ich den schweren Deckel der Truhe an.

 

In der Truhe befindet sich ein ausgehöhltes Stück eines Baumstamms. Darauf gebunden ist eine Skulptur. Erneut ein Zeichen der Fruchtbarkeit und des Lebens.

 

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Ich hebe den Stamm und die Figurengruppe vorsichtig aus der Truhe. Etwas verbirgt sich in dem hohlen, zu einem Ende hin offenen Stamm. Ich greife hinein und ertaste hölzerne Füße. Während ich ziehe, während ER aus dem Holz des Stammes geboren wird, blicke ich auf die drei Frauen auf dem Stamm.

 

„Wer bist Du nur?“, frage ich ehrfürchtig in die Stille in mir. „Wie soll ich verstehen, was das hier bedeutet, wenn Du es mir nicht erklärst? Was soll ich tun? Ich brauche Deine Hilfe!“

 

Doch da ist nur eine Welle von Traurigkeit, die eifersüchtig durch meine Gedanken fegt.

 

Und so ziehe ich IHN ganz aus dem Stamm, vollende die Geburt. Und starre benommen auf seinen Körper.

 

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ER trägt die Nägel Christi und die Pfeile des heiligen Sebastian. Ich habe ähnliche Figuren der Bakongo schon gesehen. Aber diese ist anders … stärker … ich spüre ihre Kraft, als ER in meiner Armbeuge liegt.

 

Ich rätsele, was sich in dem Mittelkasten verbirgt, der seinen Bauch bildet. Aber dieser Ort ist unerreichbar und es wäre Unrecht, ihn zu öffnen. Sein Geheimnis muss gewahrt bleiben.

 

Lange starre ich nur IHN an und verliere dabei mein Gefühl für die Zeit.

 

„DU hast DICH ihres Leids angenommen, nicht wahr?“, frage ich IHN schließlich. „Ich danke DIR dafür an ihrer statt.

 

DU kannst mehr Heilung und Trost schenken, habe ich recht?“

 

Ich werde von nun an für DICH sorgen. Ich werde DICH vor dem ‘Herz der Finsternis‘ bewahren. Es soll DICH nicht bekommen.“

 

Sorgfältig löse ich die Bänder, mit denen die drei Frauen auf den Stamm gebunden waren. Ich wickle IHN und die Figurengruppe in große Stücke des Gewebes, mit dem zuvor die Truhe geschützt worden war.

 

Dann trete ich vor die kleine Kirche und hebe den verunstalteten Leib der Frau vom aufgeweichten Boden. Traurig trage ich sie zurück in die Kirche. Ich bette sie in die Truhe und übergebe sie so der Obhut Christi.

 

Ich bette ihren Kopf auf mein zerrissenes Hemd.

 

Ein letztes Mal blicke ich in diese Augen, die nun gebrochen sind, bevor ich die Lieder darüber schließe. „Was hätte ich nur alles von Dir lernen können?“

 

Dies ist der Augenblick, in dem meine Gefährtin rücksichtslos von mir Besitz ergreift. Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen.

 

„An rud a líonas an tsúil líonann sé an croí!“, werfe ich trotzig meiner Gefährtin entgegen.

 

Dann verabschiede ich mich:

 

„Möge die Straße uns zusammenführen und der Wind in deinem Rücken sein;

sanft falle Regen auf deine Felder, und warm auf dein Gesicht der Sonnenschein.

 

Führe die Straße, die du gehst immer nur zu deinem Ziel bergab;

hab’, wenn es kühl, warme Gedanken und den Mond in dunkler Nacht.

 

Hab’ unterm Kopf ein weiches Kissen, habe Kleidung und das täglich Brot;

sei über vierzig Jahre im Himmel, bevor der Teufel merkt: Du bist schon tot.

 

Bis wir uns mal wiedersehen, hoffe ich, dass Gott dich nicht verlässt;

Er halte dich in seinen Händen, doch drücke seine Faust dich nie zu fest.

 

Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand,

halte er dich fest in seiner Hand.“

 

Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich schließe die Truhe … den Sarg, der Leben verspricht, und fülle die Grube mit dem Lehm.

 

Ich trage Wasser herbei und stampfe den Boden fest, bevor ich die zwei Bündel an mich nehme und die Kirche im Urwald für immer verlasse.

 

Edited by Joran
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3. August 1916

11 Uhr am Vormittag

Medīna an-Nabi, die erleuchtete Stadt

 

 

Ich habe einen nahen Berg bestiegen und raste an diesem stillen Ort.

 

Von hier aus habe ich einen Blick auf die ganze Stadt.

 

Alle Versuche, England noch rechtzeitig zu erreichen, sind fehlgeschlagen. Das Unterfangen war aussichtslos. Der Krieg hat die arabische Halbinsel nun fest in seinem eisernen Griff. Reisen erfordern eine sorgfältige Planung und sind immer mit Gefahren verbunden.

 

Auch die Hoffnungen auf eine Begnadigung Ruairís haben sich zerschlagen.

 

„Nein, sie haben sich nicht zerschlagen, sie wurden ganz gezielt von einem intriganten Kommissar von Scottland Yard, Basil Home Thomson, zunichte gemacht.“ Wut und Enttäuschung erfüllen mich bei dem Gedanken an diesen engstirnigen Polizisten. „Ein karrieresüchtiger Emporkömmling von üblem Charakter, der Minderheiten grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Ein Antisemit. Er hätte besser als Streifenpolizist im Londoner East End getaugt!

 

Vor fünf Jahren erst adelt man Ruairí zum ‘Knight Commander of St. Michael and St. George‘ und nun ein Todesurteil wegen Hochverrats!“ Ich begreife es nicht. Ruairí war schon immer ein Befürworter der irischen Unabhängigkeit. Das war nichts neues für alle, die ihn kannten.

 

„Es muss andere Gründe dafür gegeben haben, diese Angelegenheit nicht auf diplomatischem Wege unauffällig auszuräumen. Man will Ruairí zum Schweigen bringen! Wie damals, als seine Berichte nur gekürzt weitergegeben wurden. Man will ihn nicht nur zum Schweigen bringen, man will ihn endgültig und über den Tod hinaus zerstören. Aber wer hat ein solches Interesse und einen ausreichenden Einfluss?“

 

Ich ziehe meine Taschenuhr aus der Weste. Ihr glänzender Deckel springt auf. In London ist es jetzt wenige Minuten vor 9 Uhr. Ich stelle mir vor, wie Ruairí die Gänge in dem kalten Gemäuer entlang geführt wird. Woran er jetzt denken wird. Er muss einsam sein, auf diesem letzten Weg.

 

„Ich hätte mich so gerne von Dir verabschiedet, Ruairí!“

 

Aber er wird aufrecht seinem Schicksal entgegentreten. So hat er es immer getan. Er hatte nicht immer Recht, aber er hat immer zu seinen Überzeugungen gestanden. Er ist der mutigste Mensch, den ich bisher kennengelernt habe.

 

Ein Blick auf meine Uhr: Zehn Minuten nach 11 Uhr. In London ist es jetzt erst zehn nach neun. Noch fünf Minuten…

 

Auf der Decke vor mir liegen ein Bündel, ein Hammer und zwei Nägel.

 

Ich sehe mich um. Ich habe eine weite Sicht. Kein anderer Mensch ist auf dem Berg.

 

Sorgsam wickle ich das Bündel aus. Behutsam lege ich IHN vor mich. Ich streiche zärtlich mit meiner Hand über die Nägel und Spieße, die IHN bedecken.

 

„Verzeih mir, dass ich DIR nun Schmerzen zufügen muss! Es ist nicht um meinetwillen.“ <KLACK> „DU musst nun einem Freund beistehen.“ <KLACK> „DU kennst ihn.“ <KLACK> „Ich bitte DICH, stehe in dieser schweren Stunde meinem Freund Ruairí bei.“ <KLACK> „Lass ihn leicht und mutig die Reise antreten, die ihm nun bevorsteht.“ <KLACK> „Lass ihn auf den letzten Schritten seines Lebens nicht den Mut verlieren.“ <KLACK> „Und lass ihn keine Schmerzen leiden!“ <KLACK>

 

Nach jedem Satz versenke ich den Nagel ein wenig tiefer in SEINEN Leib.

 

Dann halte ich einen Augenblick inne. In wenigen Sekunden ist der Moment erreicht. Tränen füllen meine Augen. „Lebe wohl, mein Freund!“

 

Eine Weile verharre ich reglos, den Hammer in der Hand.

 

Dann fällt mein Blick auf den zweiten Nagel. Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Aber da ist noch eine Rechnung zu begleichen:

 

„Verzeih mir, dass ich DIR noch einmal Schmerzen zufügen muss! Ich weiß, DU kannst nicht nur Linderung und Heilung bringen. DU gibst und nimmst. DU gleichst die Waagschalen aus. Und darum verfluche ich hiermit Basil Home Thomson bei dem Leben, das gerade aus Ruairís Körper weicht.“ <KLACK> „Ich verfluche Basil Home Thomson, der seiner Geltungssucht wegen Menschen vernichtet.“ <KLACK> „Ich verfluche Basil Home Thomson, der sich mitschuldig macht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verheimlichen.“ <KLACK> „Er soll tiefer fallen, als er jemals aufgestiegen ist.“ <KLACK> „Seine eigene Lust soll ihm zum Verhängnis werden.“ <KLACK> „Seine hochdekorierten Mordgesellen sollen sich von ihm abwenden.“ <KLACK> „Sein Name soll ein Schandfleck in der Geschichte Englands werden.“ <KLACK>

 

Nun endlich kann ich den Hammer sinken lassen. Vermutlich werde ich mir das den Rest meines Lebens nicht verzeihen. Bin ich jetzt noch besser als dieser Abschaum? Aber da ist ein starkes Gefühl von Gerechtigkeit und Genugtuung in mir, das die Bedenken vorerst verdrängt. SEINE Mühlen werden langsam mahlen. Thomson wird mehr Zeit bleiben, als er Ruairí zugestanden hat.

 

Thomson ist es nicht wert, weitere Gedanken an ihn zu verschwenden. Ich will den Tag Ruairí widmen. Ich beginne mein Bündel zu schnüren, um mich auf den Weg zurück in die erleuchtete Stadt zu machen.

Edited by Joran
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Ich gehe durch eine Landschaft aus Schnee und Eis. Der Schnee, durch den ich wandere, ist unberührt. Reines Weiß überall um mich herum. Alles scheint an diesem Ort erstarrt zu sein. Weiß und ohne Veränderung, wie mein Zimmer.

 

Ich bin auf der Suche, aber ich weiß nicht wonach.

 

„Seht, nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt“, spreche ich einen Gedanken aus, der mir unvermittelt in den Sinn kommt. Meine Stimme verliert sich im endlosen Weiß.

 

Nun erinnere ich mich. Paul hat mich gehalten, als ich diese Kreatur … dieses Kind angreifen wollte … als ich es TÖTEN wollte …

 

Ich glaube, ich suche nach Paul. Paul ist verloren. Er hat sich verirrt.

 

Da ist plötzlich eine Bewegung in den Sträuchern. Erwartungsvoll blickt mich ein Rotkehlchen an, ohne jede Scheu. Es ist einsam. Ich trete nahe heran. Ich weiß, ich könnte es berühren. Aber ich fürchte, es zu verschrecken oder zu verletzen. Ich fürchte, dass es sich verwandelt, wenn ich es berühre.

 

Im Schnee entdecke ich verstreute Eisplatten mit Buchstaben darauf: „K“ „I“ „G“ „E“ „E“ „W“ „I“ „T“

 

Paul … ich erinnere mich an einen Flur … wir … waren nicht allein …

 

Das Rotkelchen beobachtet mich. Es scheint etwas von mir zu erwarten. Aber ich weiß nicht was … Nach einer Weile spricht es zu mir. Seine Stimme klingt wie das Echo aus einer fernen Vergangenheit:

 

„Matilde und ich haben bereits einmal den Fehler begangen, vorschnell zu urteilen und deswegen musste ein Mann sterben …“

 

Die Kälte dringt durch meine Kleider. Mich fröstelt. „Will mich das Rotkehlchen warnen? Befinde ich mich in Lebensgefahr? Welche Gefahr sollte von einem Rotkehlchen ausgehen? Was steckt in diesem Rotkehlchen? Wer ist Matilde?“

 

Wieder hallt die Stimme des Rotkehlchens aus den Tiefen der Vergangenheit, bis das klare Weiß um mich herum sie verschluckt:

 

„… nun habe ich Matilde, nur noch Matilde …“

 

Matilde … ich erinnere mich. Die Contessa … war bei uns … ich sah sie fallen …

 

„… Ich habe Angst, dass es bei ihr wieder losgehen könnte. …

 

… Matilde ist keine gute Frau …

 

… sie wird es mir niemals verzeihen …“

 

„Was wird sie Dir nie verzeihen“, frage ich das Rotkehlchen.

 

Auch im Sturz wirkte die Contessa anmutig und doch verletzlich. Es versetzt mir einen Stich, sie vor meinem inneren Auge erneut fallen zu sehen. Dann sehe ich sie unter mir in einer großen Halle, wie sie verzweifelt die Fetzen eines Blattes Papier einsammelt, als hinge ihr Leben davon ab.

 

Der Blick des Rotkehlchens scheint zu brennen, lodernder als seine rote Brust, als ich meine Aufmerksamkeit wieder ihm zuwende. In diesem Feuer liegt so viel Leidenschaft und Verzweiflung, dass es mich zu überwältigen droht.

 

"Weshalb weinst du?" fragte das Rotkehlchen. "So siehst du hässlich aus! Mir fehlt ja nichts!"

 

Die Worte kommen mir merkwürdig vertraut vor.

 

Das Gesträuch, in dem das Rotkehlchen sitzt, beginnt zu wachsen und sich zu verändern. Es verwandelt sich in einen Rosenstock, aber die Rosen werden wurmstichig und krank. Der Rosenstrauch verkümmert und verwandelt sich in einen winterkahlen Weißdornstrauch. Die Dornen sprießen immer länger daraus hervor.

 

Das Rotkehlchen scheint es nicht zu bemerken. Es blickt an mir vorbei und ist wie erstarrt. Es erscheint unfähig sich zu bewegen. „Wie das Kaninchen vor der Schlange“, fährt es mir durch den Kopf.

 

Ich blicke mich um. Geschmeidig und ohne jede Eile kommt Sie auf uns zu.

 

Dann ein Sprung … vollendete Körperbeherrschung wird zu tödlicher Präzision … ein eisig schönes Wunder der Natur … ein einziger Haps … und es ist vorüber.

 

Gleichgültig blickt sie mir ins Gesicht.

 

Ich bin entsetzt und fasziniert zugleich.

 

Eine Träne fällt aus meinem Auge. Als sie auf den Weißdorn trifft, dort wo eben noch das Rotkehlchen saß, verwandelt sie sich in Eis und wächst.

 

Da beginne ich zu rennen.

 

„Wovor fliehe ich, vor meiner Faszination oder vor ihr? … Bisher war es der VIRUS Wissen, der mich gleichzeitig fasziniert und in Schrecken versetzt hat. Kann es sein, dass auch die Emotion ein infektiöses VIRUS ist? Bin ich nicht der Seuchenträger, sondern das Opfer?“

 

Die Landschaft verändert sich. Immer öfter treffe ich auf Bäume. Wie schneeummantelte Riesen und Unholde umgegeben sie mich.

 

Es beginnt zu schneien.

 

„Das sind die weißen Bienen, die schwärmen“, höre ich Pauls Stimme in meinem Kopf.

 

"Haben sie auch eine Bienenkönigin?" frage ich.

 

"Die haben sie!" sagt Paul. "Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen! Es ist die größte von allen, und nie bleibt sie ruhig auf Erden, sie fliegt wieder in die schwarze Wolke hinauf. Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren die gar sonderbar und sehen wie Blumen aus.

 

Sie ist keine gute Frau … jeder will sie mir wegnehmen und ich will ihr fern bleiben, doch es geht nicht."

 

Ich nähere mich einem Wald.

 

Weiße Flocken tanzen überall am Himmel. Ihre weißen Bienen fallen über mich her und beginnen mich einzuhüllen. Ich schlage sie von meiner Kleidung. Die Dämmerung fällt. Mit dem Tageslicht gehen auch die weißen Bienen, kehren zurück in ihren Palast aus Eis.

 

Ich laufe ziellos durch den Wald. Plötzlich sehe ich mit Grausen zwei Gräber vor mir. Ich blicke nicht auf die Grabsteine, sondern laufe sofort weiter. Ich habe zu viel Angst, wessen Namen ich auf den Steinen lesen würde. Zuviele Menschen sind bereits tot und werden noch sterben, bis wir am Ende der Geschichte sind.

 

Ziellos irre ich durch den Wald. Schon dämmert der Morgen. Die weißen Bienen sind wieder auf der Suche und erfüllen die Luft.

 

Die Schneeflocken werden größer und größer, zuletzt sehen sie aus wie große weiße Hühner. Der Frost durchdringt mich. Ich spüre, wie meine Glieder zu erstarren beginnen.

 

Aus der Ferne höre ich das Läuten eines Schlittens. Es kommt näher.

 

„Ist das die Königin der weißen Bienen? Wird ihr Kuss mich retten? Oder bringen ihre Küsse den Tod?“, frage ich mich.

 

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...

Du erwachst. Und schlägst die Augen auf.

...

Was für ein Albtraum.

...

Du musst Dich erinnern.

...

DAS war alles nur ein Traum.

Oder nicht?

ODER?

...

Flehentlich hoffst Du, ...

... dass das alles nur ein Traum war...

... ein Trugbild...

... eine Fatamorgana...

... eine Illusion...

... eine Wahnvorstellung...

... eine Schimäre...

...

...

...

... Du hoffst.

... Du bittest.

... Du bettelst.

... Du flehst.

... Du betest...

...

... zu wem oder was auch immer... Dich erhören kann... erhören WILL...

...

... ERST JETZT öffnest Du Deine Augen. Die Lider sind schwer. Bleiernd. Wieder und wieder sinken sie herab, ziehen sich zu und wollen den Vorhang wieder verschliessen. Du zwingst Dich sie zu öffnen...

...

... Du liegst auf dem Boden... NEIN. Du liegst auf einem Bett... auf DEINEM Bett... und starrst an eine WEISSE Decke.

...

...

...

... Du bist auf Herm.

... Du bist im Sanatorium.

... Di bist in Deinem Zimmer.

...

... In dem Zimmer, das Du seit Deiner Ankunft nicht verlassen hast.

... nicht verlassen dürftest.

... nicht verlassen WOLLTEST.

...

...

...

... Das Zimmer ist WEISS.

... Die Nacht? ist SCHWARZ.

... Und nur schwach scheint das fahle Mondlicht durch das Fenster in Dein Zimmer hinein und auf das Fussende Deines Bettes.

...

... Wolkenverhangen ist die Nacht.

... Und totenstill.

...

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"Ist das alles tatsächlich geschehen?", frage ich mich. In meinem Kopf hämmert ein pulsierender Schmerz.

 

"Wer hätte mich in mein Zimmer zurücktragen sollen, wenn es geschehen wäre? Mr. Anderson und die Contessa? Kaum, sie hätten mich nicht einfach hier alleine liegen lassen. Nicht nach dem, was geschehen ist ... geschehen sein könnte ... Die Pfleger könnten es auch nicht gewesen sein, weil alle Bewohner dann verschlungen worden wären. ... Alle? Nein, nicht die beiden Kinder. Aber sie hätten mich nicht bis hierher tragen können."

 

Ich wünsche mir, dass es nicht geschehen ist. Ich wünsche mir, dass ich das Kind nicht angegriffen habe. Ich wünsche mir, dass ich den Jungen nicht töten wollte, sondern dass dies alles nur die wirren Irrungen des unkontrollierbaren Unterbewusstseins waren. Ich wünsche mir, dass es kein Junge war, sondern ein Nachtmahr, gegen den mein Geist gekämpft hat. Dann habe ich die Kontrolle nicht verloren. Dann bin ich Mensch geblieben. ... Und doch ... dann hätte ich die Schneekönigin nicht getroffen ... es gäbe sie überhaupt nicht. Ebenso wenig Anderson. Ich wäre wieder allein ... in meiner weißen Quarantäne ... und ich würde langsam den Verstand verlieren. ...

 

Die vertraute Traurigkeit schwappt bei den letzten Gedanken kurz über meinen Geist und erinnert mich daran, dass ich nicht alleine bin ... nie alleine sein werde. Dankbar lasse ich es geschehen.

 

"Was wünsche ich mir tatsächlich?", frage ich mich irritiert. Dann dränge ich den Gedanken beiseite: "Welche Bedeutung hat es schon, was wir Menschen uns wünschen?"

 

"Nun, ER kann immerhin dafür sorgen, dass Wünsche wahr werden!", erinnere ich mich.

 

Vielleicht könnte ich einen klaren Gedanken fassen, wenn mein Kopf nicht derartig schmerzen würde ... rhythmische Schläge in meinem Kopf, wie anbrandende Wellen an einem unsichtbaren Strand, wie der Hammer, mit dem man Nägel in Holz schlägt ...

 

Ich blicke auf die vielen kleinen vertrauten Schatten an den Wänden, die mir seit langem ein sicheres Indiz für die Uhrzeit geworden sind. Jede Unebenheit im Putz ist eine kleine Sonnenuhr. Der Verlauf und der Zyklus des Mondes sind mir aus unzähligen Nächten vertraut. Ich greife herab, taste suchend nach meiner Westentasche, nach der Uhr. Welche Zeit wird sie mir zeigen? Dieser Tag, der nicht zu vergehen schien ... ist an ihm für mich die Zeit anders vergangen, als für den Mond, weit über uns? Wird die Uhr noch mit den Schatten in Einklang zu bringen sein?

 

Aber ist der Mond heute noch so beständig, wie er mir bislang erschien, bevor wir diese veränderte ... korrigierte (?) ... Himmelskarte gefunden haben?

 

"Wie lange habe ich 'geschlafen'?", überlege ich. "Kein Hungergefühl, nur Übelkeit durch die Kopfschmerzen. Das hilft mir nicht!", beginne ich meinen Körper zu analysieren.

 

Wird das Uhrwerk der Taschenuhr vielleicht sogar abgelaufen sein?

 

Verunsichert blicke ich an mir herab. Welche Kleidung trage ich? Ich bin am Strand durch den Priel gerannt. Meine Hosenbeine waren mit Salzwasser bespritzt. Weiße Ränder aus Salzkristallen müssten darauf im Mondlicht sichtbar sein. Der Mond scheint auf das Fußende meines Bettes.

 

Wo ist das Buch, das ich sorgsam eingesteckt habe? Das Buch mit der Botschaft ...

Edited by Joran
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...

... Als Du die Decke zurück schlägst, siehst Du, dass Du einen Pyjama trägst; blau-weiss gestreift.

...

... In Deinem Kopf brummt und summt es, als sässe dort ein Bienenschwarm fest, der auszubrechen trachtet.

...

... Dir ist schwindelig und übel.

...

... Du hast Kopfschmerzen...

...

... Du fühlst Dich verkatert, als hättest Du letzte Nacht durchgesoffen.

...

...

...

... Und Deine linke Schulter schmerzt...

...

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"Bienen oder Schneeflocken?", denke ich und halte meinen Kopf.

 

Ich hasse diesen Pyjama! Der Wechsel der Farben steigert meine Übelkeit.

 

Eine innere Unruhe hat mich mittlerweile erfasst.

 

Ganz langsam und vorsichtig schwinge ich die Beine über den Rand des Bettes und setze mich auf. Ich spüre meine Muskeln in den schweren Beinen. Beweist dies, dass ich nach den Wochen in diesem Zimmer tatsächlich vor nicht allzu langer Zeit über den Strand gerannt bin?

 

Ich halte einen Moment inne und warte auf die Reaktion meines Körpers, unschlüssig, was ich als nächstes tun soll ... tun muss.

 

Als sich der aufwallende Schmerz wieder etwas beruhigt hat, betaste ich meine Schulter. Ich werde Licht benötigen, um sie zu untersuchen. Darum ignoriere ich den Schmerz in Kopf und Gliedern, so gut es geht ... empfinde ihn nach einer Weile fast als willkommenen Beweis dafür, dass ich noch lebe und zumindest auch irgendetwas körperliches ... greifbares geschehen sein muss.

 

Wenn ich tatsächlich den Schilling und den Sixpence aufgehoben habe, wenn ich tatsächlich in dem altägyptischen Zimmer war, dann gibt es die Contessa und Anderson. Dann muss ich mich vergewissern, wie es ihnen geht. Wenn ich hingegen nur geträumt habe, kann es die beiden nicht geben und es spuken demnächst zwei weitere Gespenster in meinem Geist.

 

Ich habe keine Ahnung wo ich die Contessa suchen sollte. Aber das Zimmer von Anderson liegt nehmen meinem. Ich habe ihn getroffen, als er sein Zimmer verließ. ... wenn ich ihn tatsächlich getroffen habe ...

 

Aber ich muss mich erst vergewissern, ob ER sicher ist...

 

Vorsichtig stehe ich auf, halte mich am Gestellt des Bettes fest, während ich langsam in die Hocke sinke. Meine zitternden Hände streichen über den Überseekoffer. Die innere Unruhe mildert sich bereits, als ich mit den Fingern über die unberührten Schlösser streiche.

 

Ich erhebe mich vorsichtig wieder und taste mich zu meinem Schrank vor. Dort steht mein Gehstock. Ich schraube den Griff ab und ertaste den ersten Schlüssel, Erleichtert schraube ich den Gehstock wieder zusammen.

 

Ich öffne den Schrank und ertaste meinen Anzug. Rasch fahre ich in die Hosentasche und stoße auf die silberne Kette mit dem zweiten Schlüssel. Meine Erleichterung wächst. Ich arbeite mich zur Weste vor und ziehe an der Kette die Taschenuhr hervor. Nach kurzem Überlegen löse ich die Kette von der Weste. Mit der Taschenuhr kehre ich zum Bett zurück. Erst als ich wieder auf der Bettkante sitze, öffne ich die Rückwärtige Klappe der Uhr. Unter dem kleinen Rahmen mit dem Foto meiner Eltern finde ich den dritten Schlüssel. Jetzt bin ich überzeugt, dass der vierte Schlüssel unberührt im Tabaksbeutel im Koffer liegt. Den Schlüssel lege ich zurück in sein Versteck und schließe die hintere Klappe.

 

Die vordere Klappe der Taschenuhr glänzt golden im Mondlicht. Nur ein kleiner Fingerdruck und ich werde möglicherweise Gewissheit haben. Wird die Uhr stehen? Welche Zeit wird sie anzeigen? Während der Deckel sich mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch zu öffnen beginnt, fallen mir die Münzen wieder ein ... ich habe vergessen, sie in der anderen Tasche zu suchen... Und das Buch, es müsste noch in meinem Mantel sein ...

Edited by Joran
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...

... Du sitzt auf der Bettkante und drückst auf den Deckel der Taschenuhr...

...

... Du erwartest das vertraute Klicken zu hören...

...

... erwartest das beruhigende Tick-Tack Tick-Tack Tick-Tack zu hören...

...

... während Dein Blick zum Kopfende des Bettes wandert...

...

... weshalb?

...

... nur ein Gefühl...

...

... ein beunruhigendes Gefühl...

...

... eine Ahnung...

...

... eine Befürchtung.

...

 

... Doch der Uhrdeckel knarrt, als würde sich ein Sargdeckel öffnen...

...

... Du blickst auf die Uhr in Deiner Hand...

...

... und siehst diese zerfliessen, wie Honig...

...

... siehst die Zeit durch Deine Finger rinnen...

...

... es ist fünf nach zwölf...

...

... und Du steckst die Uhr wieder ein.

...

 

...

... Der Blick auf das Bett...

...

... offenbart einen alten, bärtigen Mann der dort liegt...

...

... in blau-weiss gestreifter Kleidung...

...

... in Sträflingskleidung.

...

... Der Mann erscheint Dir fremd zu sein.

...

... Der Mann scheint Dir wohl bekannt zu sein.

...

... Aschfahl ist das Gesicht des Mannes.

...

... Die Arme sind über der Brust gekreuzt.

...

... In den Händen ein Rosenkranz.

...

... Auf den Augen jeweils eine Münze.

...

... Ein Schilling und ein Sixpence.

...

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Der Mondschein nimmt den Dingen ihre Farben.

 

Nur diesem verfluchten Pyjama nicht. Er widert mich an. Ich möchte ihn am liebsten hinfort reißen und verbrennen.

 

Auch verlieren die Dinge ihre Konturen im silbernen Licht des Mondes. ... Die Münzen ... Ich bin mir unsicher, wer dort auf dem Bett liegt. Das Gesicht scheint sich im schwachen Licht des Mondes fließend zu verändern ... wie die Uhr in meiner Hand. Bin ich es, der dort liegt? Oder ist es Ruairí?

 

Der Kopf ruht auf dem Kissen und ist so leicht zur Brust geneigt. Der Bart verdeckt den Hals. Ich kann es nicht über mich bringen, nach dem Hals zu sehen. Werde ich dort die Spuren des Hanfseils finden. Ist das Genick gebrochen?

 

War das Seil aus Hanf oder - wie es mich mein Nachtmahr aus Medina immer wieder glauben machen will - aus lebenden, wuchernden, pulsierenden, schwarzen, feinen Strängen geknüpft?

 

Will ER mir beweisen, dass der erste Wunsch erfüllt wurde?

 

Ich kann mich nicht überwinden, den Hals zu begutachten. Zu sehr fürchte ich, haarfeine Wunden vorzufinden, Kanäle zum vegetativen Nervensystem und in die Schlagadern, die schnellsten Wege zum Herzen und zu den unergründlichen Tiefen des Geistes.

 

Verstört und verzweifelt sinke ich vor dem Bett auf den Boden. "Nimmt dieser Albtraum nie ein Ende?", frage ich sprachlos in mich hinein. Meine stille Begleiterin streicht frohlockend umher. Sie braucht nichts zu sagen. Ihre Hochstimmung verrät mir auch so, dass etwas schreckliches geschehen sein muss. Es wäre sinnlos zu fragen. Sie kostet jeden Moment schweigend aus. Es ist ein Spiel um Macht.

 

"Wie konnte ich nur die eine Patrone ins Meer werfen?", frage ich mich wie schon unzählige Male zuvor. Sie lacht leise. "Ich wünschte, Du hättest einen Hals, den ich mit meinen alten Händen brechen könnte!", werfe ich ihr bitter entgegen. Ihr Lachen klingt noch heller, bevor sie einer Sirene gleich geschmeidig in ihr Meer aus Traurigkeit abtaucht.

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...

... Als Du Deine Augen öffnest, liegst Du auf dem Bett im Sanatorium.

...

... Es ist Nacht. Tief-schwarze Nacht.

...

... Um Dich herum ist es totenstill.

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Was ist Wirklichkeit? Was ist Traum?

 

Ich habe nicht nur die Orientierung verloren, es ist mehr als das. Die klare Trennlinie scheint einem fließenden Übergang gewichen zu sein. Zunehmend verliert die Differenzierung für mich an Bedeutung. 

 

Mir ist bewusst, dass dies sicherlich kein Zustand ist, den ich als Arzt 'gesund' nennen würde. Aber er ermöglichte mir, mich von Ruairí zu verabschieden ... und ich konnte mit der zweiten Seele in mir Kontakt aufnehmen, nach so langen Jahren des Beisammenseins erstmals Worte wechseln. Es fühlte sich so echt an, dass ich nicht gewillt bin, loszulassen. Es IST geschehen! Welche Bedeutung hat es schon, ob im Traum oder in einer für unsere begrenzte Wissenschaft messbaren Realität?

 

Der pochende Schmerz in meinem Kopf ist verschwunden. Nur die vertraute, lauernde Präsenz meiner ständigen Gefährtin.

 

Zwar kann ich nichts sehen, aber ich bin mir sicher, in meinem Zimmer im Sanatorium auf meinen Bett zu liegen. Das ist ein Anfang, auf dem ich aufbauen kann.

 

Die Fragen bleiben die gleichen wie zuvor. Nur brauche ich jetzt Licht.

 

Welche Mondphase hatten wir, als ich an jenem letzten Abend meiner Quarantäne auf meinem Bett lag. Wie weit entfernt erscheint mir jener Abend.

 

Wird Dr. Clark heute erscheinen, wenn der Morgen graut, wenn das rege Treiben im Haus beginnt, so wie ich es damals erwartet habe?

 

Ich taste an meinem Körper herab, hoffe mit meinen Händen nicht mehr diesen Übelkeit erregenden gestreiften Pyjama zu erfühlen.

 

Ich bewege meine Zehen, um festzustellen, ob ich etwas an den Füßen trage.

 

Ich beginne die Routine von neuem:

 

"Zuerst Licht, dann die Schlüssel, dann Andersons Zimmer!", bestärke ich mich.

 

Zwar sehe ich nichts, aber meine Gedanken erscheinen mir klarer. Ich glaube, nun tatsächlich erwacht zu sein, aber jetzt nehme ich dieses Gefühl eher gleichgültig zur Kenntnis.

 

Ich erhebe mich vorsichtig, aber etwas schwungvoller als beim letzten mal. Keine Sorge vor Übelkeit.

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