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[Nightmare Files] Kapitel 7 - Immer a lll ein


Der Läuterer
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Du bist vollständig bekleidet, wenn auch ziemlich derangiert. Du stehst auf und musst Dich sogleich festhalten, da Dir schwindelig ist. Dein Kreislauf bereitet Dir Probleme. Deine Schritte sind unsicher. Dein Gang wackelig. Deine Hände zittern leicht. Dann erreichst Du den Kleiderschrank. Der Spiegel auf einer der Türen zeigt Dir einen alten, verwirrten Mann, mit zittrigen Gliedern und einer unvorteilhaften, wirren Frisur, die aussieht, als hätten die Haare länger keinen Kamm gesehen. Dein Gesicht benötigt dringend eine Rasur und Deine Kleidung erweckt den Anschein, als hättest Du nächtelang darin geschlafen. Deine Augen weisen dicke Ränder auf und sind blutunterlaufen, Deine Stirn ist tief gefurcht und Deine Wangen scheinen leicht eingesunken zu sein.

Bleierne Müdigkeit überfällt Dich, doch Du ringst sie nieder und erledigst Deine täglichen Routinen.

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Ich betrachte mein Spiegelbild. Schließlich zucke ich mit den Achseln.

 

"Fast alle Ärzte sind sehr alt ...", wiederhole ich die Worte der Contessa. "Also, was soll's?"

 

Ich vergewissere mich, dass alle Schlüssel an ihrem Ort sind und der Überseekoffer unberührt ist.

 

"Anderson muss mich hergebracht haben."

 

Dann wasche ich mich.

 

"Er kümmert sich jetzt vermutlich um die Contessa. Das wird für ihn das wichtigste sein."

 

Ich richte notdürftig meine Kleider. Der Mantel hängt an der Garderobe.

 

"Ich hoffe, er konnte den Jungen retten."

 

Ich atme tief durch. Der Moment ist gekommen: Ich versuche Ordnung zu bringen in die Wahrheit, die physisch messbar ist, und die Wahrheit, die in meinem Inneren liegt.

 

"Erst die Münzen ... dann das Buch im Mantel", beschließe ich.

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Zwei Münzen. Ein Schilling und ein Sixpence klimpern in der Tasche.

Auch das Buch befindet sich an seinem Platz.

Alles ist so, wie es sein sollte.

Du runzelst die Stirn. Hattest Du etwas anderes erwartet?

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Verwirrt betrachte ich das Buch, öffne es und finde das Blatt darin.

 

"Aber wo sind dann die Münzen?", frage ich mich verwirrt. Ich muss an den Toten auf meinem Bett denken und an die Münzen auf seinen Augen.

 

Ich verstecke das Buch sorgfältig in dem Spalt zwischen dem Schrank und der Wand. Dort ist es nicht mehr zu sehen. Den Schrank werde ich abrücken müssen, um es zurückzuerlangen. Ich werde mich später damit befassen.

 

Jetzt muss ich zuerst nach Anderson sehen. Das Buch beweist, dass Anderson und die Contessa nicht nur Ausgeburten meiner Phantasie sind.

 

Leise öffne ich die Tür und blicke den Flur hinauf und hinab.

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Der Flur liegt im Dunkeln. Nur der fahle Schein des Mondes wirft sein schwaches Licht durch die hohen Fenster über Dir. Niemand ist zu sehen.
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Ich zögere kurz.

 

Ich denke an die alte Blendlaterne in meinem Überseekoffer.

 

Nein, es geht nur ins Nachbarzimmer.

 

Ich husche in den Flur und schließe hinter mir leise die Tür. So lautlos wie möglich begebe ich mich zur Tür von Paul Anderson.

 

Ich zögere erneut. Wenn ich nun klopfe, hört es der halbe Flur. Langsam drücke ich die Klinke herab und öffne die Tür einen Spalt.

 

Es ist zu meiner Enttäuschung dunkel im Zimmer. Ich flüstere in den Raum: "Mr. Anderson! ... Mr. Anderson?"

 

Als keine Antwort kommt, schiebe ich mich in den Raum, schließe hinter mir leise die Tür und mache Licht.

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Niemand ist hier. Du bist allein in Andersons Zimmer.

Deine Schuhe erzeugen auf dem Boden ein beunruhigendes schmatzendes Geräusch.

Irgendwie hoffst Du, dass Paul hier nur eine Flasche Sirup verschüttet hat.

Aber Du weisst es besser. Du weisst, was hier am Boden an Deinen Schuhen klebt.

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Der Geruch von Blut liegt in der Luft. Ein Geruch, der mir so vertraut geworden ist, wie kaum ein anderer. Die Luft ist so gesättigt von diesem Geruch, dass ich einen metallischen Geschmack auf der Zunge wahrzunehmen beginne.

 

Erinnerungen an ein Feldlazarett im zerstörten Belgien im Herbst 1918 steigen in mir auf.

 

Auch hier ist zu viel Blut.

 

Aber woher stammt es? Es kann nicht Andersons Blut sein. Er muss mich in mein Zimmer gebracht haben. Wie sonst sollte ich dort hingekommen sein?

 

Ich denke an den Jungen, der von etwas bösen besessen zu sein schien ... oder war das nur meine Einbildung? An meiner Kleidung war auch kein Blut. Hätte Anderson den Jungen getötet und so viel Blut bis hierher getragen, dann hätte auch ich mit dem Blut besudelt sein müssen. ... So kann es nicht gewesen sein ... Ich hoffe, dass es nicht so war.

 

Erneut gehen mir Andersons unverständliche Andeutungen durch den Kopf. Werde ich dieses Rätsel jemals entschlüsseln? Ich will versuchen Anderson zu helfen, wenn all dies vorüber ist. Ich hätte dies nach den gemeinsamen Erlebnissen ohnehin versucht, aber jetzt ... nach der Begegnung mit dem Jungen ... schulde ich es ihm auch. Ohne ihn ...

 

Ich verdränge den Gedanken und entzünde das Licht. Blut ist auf dem Boden verteilt. Viel Blut. Aber Anderson ist nicht hier. Das Zimmer ist leer.

 

Das Blut wurde durch irgendetwas verschmiert ... durch einen Körper vielleicht? Ich hoffe, dass dem nicht so war. Es kann nicht so enden. Es DARF nicht so enden.

 

Aus den Spuren am Boden werde ich nicht schlau. Da sind keine Spritzer an den Wänden. Nichts, was einen Aufschluss darüber geben würde, ob hier eine Gewalttat verübt wurde oder ob Anderson möglicherweise verletzt hierhergekommen ist.

 

Die Fenster sind geschlossen. Was immer sich hier abgespielt hat, was immer hier war, es kann nur zurück in den Flur geführt haben.

 

Ich greife mir die Petroleumlampe von Andersons Tisch und entzünde sie. ... Bilder der brennenden Contessa in meinem Kopf ... Ich wünschte, ich würde das Zimmer der Contessa kennen. ... Ich muss zurück zum Flur der Ärztezimmer! Wo, wenn nicht dort, könnte ich Antworten finden? Wieder kehrt die Übelkeit zurück bei dem Gedanken, was ich dort vorfinden könnte.

 

Mit der Lampe verlasse ich das Zimmer. Einmal werfe ich noch einem Blick zurück in den Raum, der einmal Andersons war. Traurigkeit überkommt mich. Ich habe nicht das Gefühl, dass er das jemals wieder sein wird. Oder ist das wieder nur eine ihrer Brandungswellen in mir? Meine Hände verkrampfen sich um den schlanken Ständer der Lampe und ich stelle mir vor, es wäre ihr Hals.

 

Dann wende ich mich ruckartig ab und trete heraus in den Flur. Ich folge dem Flur in Richtung der Eingangshalle. Ich gehe den gleichen Weg, den ich schon einmal gemeinsam mit Anderson gegangen bin. Ich denke an die Hoffnung, die er an diesem fernen Morgen ausstrahlte, die Aussicht auf eine baldige Entlassung, das Versprechen der Heilung. Es wirkte so aufrichtig empfunden ... bis zu dem Schrei der Contessa. In Wahrheit gibt es keine wirkliche Heilung ... für keinen von uns. Hat er das tatsächlich nicht gewusst? Wieder wird mir klar, dass ich tatsächlich nichts über Anderson weiß, nur einen Namen ohne Gewicht.

 

Ich lausche auf Geräusche, aber alles ist in eine Grabesstille getaucht, tiefer als die normale Stille, die sich in der Nacht über das Hospital legt, wenn das rege Treiben der Pfleger und Schwestern verstummt.

Edited by Joran
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Der Blutfleck ist recht grossflächig in Anderson's Zimmer, mit einer deutlichen Schleifspur zum Flur hin und die Stufen der Treppe hinunter. Breit und feucht-klebrig ist die Spur, die sich die Stufen hinab ziehen und sich in der Dunkelheit verlieren.
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Je weiter ich gehe, um so deutlicher wird, dass hier viel mehr Blut auf dem Boden verteilt ist, als ein einzelner Körper abgeben könnte, selbst wenn er vollständig ausgeblutet worden wäre. "Fünf bis sechs Liter bei einem erwachsenen schweren Mann.", versuche ich das vorgefundene Schlachtfeld als Arzt nüchtern zu analysieren.

 

"Das kann nicht von Anderson stammen.", beruhige ich mich. "Ich muss noch in meinen Träumen gefangen sein. Dies kann nur eine Phantasie sein."

 

"Jedenfalls nicht von Anderson alleine", pflichtet meine Begleiterin mir schnippisch bei.

 

Ich erreiche das Erdgeschoss und folge der Spur weiter in Richtung Empfangshalle.

 

Das Licht der Lampe taucht die große Eingangshalle in ein trübes Licht, an dessen Rand sich wabernde Schatten der geringen Kraft der Lampe widersetzen.

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Du folgst dem Weg des Blutes. Der Schleifspur.

Zur grossen Empfangshalle. Durch die Tür hindurch.

Zur kleinen Eingangshalle. Durch die grosse Aussentür hindurch.

Nach draussen. In den Vorgarten.

Hinaus in die Wildnis von Herm. Wo der Mond sein fahles Gesicht am Himmel zeigt.

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Der kalte Nachtwind zerrt an meiner Kleidung und trägt vom Meer einen Geruch von Moder und Fäulnis heran, der den Geruch des Blutes überdeckt. Doch der metallene Geschmack will auch jetzt nicht weichen.

 

Die wenigen Bäume rauschen im Wind und übertönen damit im Moment sogar den beständigen Unterton der fernen Brandung. Die Äste schwanken wie Arme zu unverständlichen Gesten im fahlen Mondschein.

 

Zögernd blicke ich zurück zum Haus. Alles ist in Dunkelheit gehüllt. Nur kurz meine ich den schwachen Widerschein eines Lichtes hinter einer Scheibe wahrzunehmen, bin mir aber nicht sicher. Keine Geräusche aus dem Haus deuten auf Bewohner hin. Die meisten Vorhänge scheinen nicht zugezogen worden zu sein.

 

Meine Hände sind leer. Das Küchenmesser, das ich bei meinem Angriff auf den Jungen gezückt hatte, ist fort. Lediglich der Brieföffner steckt noch in meinem Hemdsärmel.

 

"Eine klägliche Waffe!", denke ich. "Was immer für diese Blutspur verantwortlich ist, werde ich damit kaum beeindrucken können."

 

Wieder muss ich an Grendel denken, der des Nachts über die schlafenden Krieger des Dänenkönigs Hrothgar und Beowulfs Gefährten herfällt, um sie zu verschlingen. Es wirkt, als hätte der Unhold hier seine blutige Beute in seine Höhle geschleppt.

 

"Was immer hier fortgeschleift wurde, muss tot gewesen sein. Ich muss erst sehen, ob noch jemand lebt", beschließe ich und kehre um.

Edited by Joran
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"Verdammt, warum habe ich nicht im Flur mit den Wohnräumen der Ärzte nachgesehen?" Meine Nachlässigkeit ärgert mich. Offensichtlich bin ich noch immer nicht wieder ganz bei mir.

 

"Aber was werde ich dort vorfinden? Haben die Contessa und Anderson die Durchsuchung der Zimmer fortgesetzt? Wird dort Amanda auf mich warten?"

 

"Eigentlich habe ich das Mädchen kaum gesehen, zumeist nur gehört."

 

Es ist jetzt erstaunlich schwer, sich ein klares Bild von dem Mädchen zu machen. Die verzerrte Erinnerung nimmt meinem Bild von Amanda jedoch nicht diese Aura von Bosheit unter einem vordergründigen Deckmantel der Unschuld ... im Gegenteil. Hat sich mein Bild von ihr in meinen Träumen verändert? Oder habe ich nur einen Blick unter den Deckmantel geworfen? Habe ich sie vielleicht nur erträumt? Es gelingt mir nicht, die Ereignisse in einen überzeugenden Einklang zu bringen.

 

"Zuletzt war Amanda im Keller. Warum nur? Wohin wollte das Biest uns führen?"

 

Meine Schritte zurück zum Sanatorium werden bestimmter und schneller. Ich bin nun sicher, dass der Zeitpunkt, dieses verfluchte Haus zu verlassen, noch nicht gekommen ist.

 

Das Licht der Petroleumlampe flackert bedenklich im Wind, als ich das Eingangsportal erreiche. Ich öffne die schwere Holztür und trete ein. Alles scheint wie zuvor. Langsam durchschreite ich die kleine Eingangshalle. In der großen Halle halte ich mich diesmal weiter seitlich, an der Treppe vorbei. Das unzureichende Licht meiner Lampe enthüllt mir nun die zerstörte Tür des Krankentraktes. Wenige Schritte weiter liegt eine Gestalt auf dem Boden, eine Frau, eine Schwester ... nicht die Contessa. Dunkel breitet sich eine zähflüssige Lache aus Blut um den reglosen Körper. Es ist überflüssig hier noch nach einem Puls zu tasten.

 

In diesem Moment hallt ein gellender, hoher, lang anhaltender Schrei aus einem der Flure in die große Empfangshalle. Meine Nerven liegen blank. Fast entgleitet die Lampe meinen Händen. Im letzten Moment kann ich sich noch auffangen.

 

Planlos haste ich herüber in Richtung Treppe, doch im selben Moment wird mir klar, dass es völlig unsinnig ist, mit der Lampe in der Hand Deckung zu suchen. Und einen Augenblick später wird mir bewusst, dass ich geradewegs auf die Kellertür zulaufe.

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Die Tür unter der Treppe steht offen. Sie führt zu einer kleinen Kammer mit einem Abstieg... in den Keller.

Schnell verbirgst Du Dich hinter der Wand neben der Türöffnung. Ein kurzes, kräftiges Pusten in die Öffnung des Schutzglases und die Flamme erlischt. Nur noch ein zaghaftes, aber dauerhaftes Glimmen am Docht, ist noch immer sichtbar.

Du wartest... und zäh fliesst die Zeit dahin, während neben Dir die Farbe von der Wand blättert und leise zu Boden rieselt.

Träge wie weicher Gummi zieht die Zeit dahin, währen die Halle in trübe Stille getaucht ist. Die Zeit scheint still zu stehen.

Wenn das Ticken der Uhr verstummt und das ausschlagende Pendel mitten in der Bewegung ruht...

Nichts passiert. Nichts ist zu hören.

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Als das letzte Glimmen des Dochts erstirbt, horche ich gespannt in die Stille. Das letzte Echo des gellenden Schreis in den langen Fluren des Sanatoriums ist verklungen. Kein zweiter Schrei, keine Geräusch laufender Füße. Die Grabesstille ist zurückgekehrt.

 

"Dieses Haus ist kein Sanatorium. Es ist eine gewaltiges Mausoleum", denke ich.

 

Ich frage mich, wie alt die Gewölbe unter diesem Gebäude sein mögen. Ob sie noch aus der Zeit der Einsiedler oder des ersten Klosters auf Herm im 6. Jahrhundert stammen, als das Christentum für eine Religion noch jung war? Oder aus noch früherer Zeit. Mir kommt in den Sinn, dass Kirchen und Kloster nicht selten auf sehr viel älteren heidnischen Kultplätzen errichtet wurden, um die alten heidnischen Religionen zu verdrängen und die Zeugnisse ihrer blasphemisch Überlieferungen zu verdecken.

 

"Der Keller muss einen zweiten Zugang haben", schließe ich aus dem Luftzug.

 

Nur langsam gewöhnen sich meine Augen an die Finsternis. Ich taste mich langsam an der Wand entlang in die kleine Kammer. Ich blicke die Treppe hinab. Aber die Tiefen der Kellergewölbe sind in der Dunkelheit unergründlich.

 

Da höre ich im Haus eine Frau brüllen. Die Stimme ist gedämpft, so dass ich nur die letzten Worte verstehe: "... TEUFEL IST DA ..." Aber die Stimme erkenne ich wieder. Es ist nicht lange her, dass ich diese Frau brüllen hörte ... die Contessa. So schnell es in der Finsternis möglich ist, renne ich aus der Kammer und in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Ich erreiche den Flur mit den Behandlungsräumen. Der Mond scheint durch ein Fenster am Ende des Ganges und enthüllt verstreute Trümmer auf dem Boden. Vorsichtig taste ich mich voran und lausche in die Dunkelheit, bis ich gedämpfte Stimmen höre.

 

"Mit wem spricht die Contessa? Mit dem Teufel? ... Sei nicht albern. Du weißt, dass der Teufel nicht existiert ... nur ein Bild ist für viel schlimmere Schrecken, die die Vorstellung der meisten Menschen übersteigen."

Edited by Joran
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