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Nightmare Letters - Briefwechsel zwischen Matilde und Clive


Joran
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Nightmare Revelations - Ein mörderisch heisser Sommer - Post #77

[...]

Ich nenne als neues Ziel meine Pension und die Droschke setzt sich langsam wieder in Bewegung.

 

Zurück auf meinem Zimmer entnehme ich meiner Reisetasche entschlossen Briefpapier und Feder. Eine Weile betrachte ich die weiß getünchte Wand, dann das weiße Blatt. Dann beginne ich zögerlich zu schreiben:

 

"London, den 13. Juli 1928

 

 

Liebe Matilde,

 

es war mir eine große Freude, Dich heute wiederzusehen.

 

Ich weiß, dass wir noch über viele Dinge, über unsere Erlebnisse auf Herm, reden wollten.

 

Und doch habe ich mich entschlossen, nun schon wieder Abschied zu nehmen. Bitte verzeihe dem alten, kauzigen Mann, der ich inzwischen bin, dass er Dir nicht persönlich Lebewohl sagt. Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, hiermit das Richtige zu tun.

 

Nach reiflicher Überlegung muss ich Hugh darin beipflichten, kein guter und angemessener Umgang für Dich zu sein. Du bist jung und hast Dein Leben noch vor Dir. Du hast bereits so viele schreckliche Dinge erlebt, die einer Frau wie Dir niemals hätten widerfahren sollen. Es wäre nicht richtig, Dich zusätzlich mit meiner Vergangenheit zu belasten.

 

Völlig zurecht erwartet Hugh als Dein Ehemann, sich mit Dir eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, vielleicht eine Familie zu gründen, und dies ungestört von Dritten wie Paul oder mir. Ich bin der Letzte, der dem im Wege stehen will. Das ist schließlich der Sinn der Ehe. Hugh liebt Dich, daran habe ich keinen Zweifel. Ich glaube, er liebt Dich viel mehr, als er Dir gegenüber und möglicherweise sogar sich selbst einzugestehen bereit ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass er dich darum schützen will. Nichts anderes erwarte ich von ihm. Er kann Dir eine unbeschwerte, finanziell gesicherte Zukunft bieten. Nutze diese Chance! Ich wünsche Dir von Herzen, dass Dir dieses Glück mit Hugh zuteil wird.

 

Begehe nicht die gleichen Fehler, die ich in meiner Vergangenheit begangen habe. Wenn Du zu lange abseits der Wege gehst, ist irgendwann der Zeitpunkt verpasst, auf die ausgetretenen Pfade zurückzukehren. Abseits der Wege ist kein Glück zu finden, glaube das einem alten Mann.

 

Ich werde weiter nach Paul suchen und es Dich wissen lassen, wenn ich etwas erfahren sollte.

 

Ich wünsche Euch alles erdenklich Gute!

 

Dein Clive"

[...]

 

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Nightmare Revelations - Reise nach Jerusalem - Post #12

Ich mache mich weiter fertig. Dann nehme ich Papier und einen Stift, und setze mich hin.

 

Lieber Clive,

er tut mir unendlich Leid, wie die Sachen gestern gelaufen sind. Es war sicherlich nicht meine Absicht, dass du dich so gefühlt hast. Ich dachte, uns wiederzusehen, und dir einen Job bei uns anzubieten, würde dir auch helfen, und ich habe mich gefreut dich wieder persönlich zu treffen.

Leider es ist doch anders gelaufen.

Ich bin sehr traurig, dass du jetzt weg bist.

Bitte nimm meine tiefste und ehrliche Entschuldigungen.

Ich hoffe, bald von dir zu hören.

 

deine Matilde.

 

dann stecke ich den Brief in einem Umschlag, und schreibe die Addresse.

 

Wortlos folge ich Hartmut im Auto.

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Nightmare Bites

 

Clives Landgut in Irland, 24. Juli 1928

 

“Liebe Matilde,

 

für Deine herzlichen Worte danke ich Dir. Du schuldest mir keine Erklärung und ganz sicher keine Entschuldigung. Ich weiß, dass Du Dir einen anderen Verlauf meines Besuchs gewünscht hättest und ich bitte Dich nochmals um Verzeihung für meine überhastete Abreise. Es tut mir leid, dass ich Dir damit Kummer bereitet habe.

 

Ich fürchte, die letzten Jahre haben es für mich fast schon zur Gewohnheit werden lassen, Brücken hinter mir abzureißen. Meine Seele ist von einer so tiefen Unruhe erfüllt, dass ich sie nicht in Worte fassen kann. In meinem Innern tost ein düsteres Meer, dessen Urgewalten ich kaum mehr bändigen kann. Irgendwann wird es mich verschlingen. Ich hatte gehofft, mit meiner Flucht nach Herm dem Reisen ein Ende setzen und Ruhe finden zu können. Für eine Weile schien dies auch zu gelingen, aber ich habe dort meine Vergangenheit nur verdrängt, indem ich meine Augen geschlossen oder mich auf den Anblick dieser weißen Wände beschränkt habe. Nun – nach den Geschehnissen auf Herm – ist es schlimmer denn je. Und ich bin so froh, dass Du und Paul an meiner Seite waren, als ich wieder zu sehen begann.

 

Wenn ich auf mein langes Leben zurückblicke, sehe ich überall die Gesichter von Toten am Wegesrand. Die Eltern … Freunde … Weggefährten … Menschen in meiner Nähe … so viele! Sie alle sind gewaltsam aus dem Leben geschieden. Und ich frage mich: Warum gerade ich? Warum habe ich sie alle überlebt? Warum war ich nicht mit meinen Eltern auf der Fähre, die diese ohne Sterbesakramente in ein ewig feuchtes Grab hinabriss? Warum musste Roger für die Wahrheiten sterben, die wir im Kongo fanden? Warum hat damals in jener Nacht im Kongo, die mich bis heute in meinen Träumen verfolgt, eine sterbende Frau in meine Augen geblickt? Warum musste ich so viele ehrliche Soldaten verbluten oder an giftigen Gasen zugrunde gehen sehen und blieb als Arzt selbst verschont? Warum hat in jener schicksalhaften Nacht auf Herm das Grauen Paul hinfort gerissen und nicht mich? Ich wünschte so sehr, es wäre alles anders gekommen. Wäre ich doch nur mit meinen Eltern gegangen. Oder hätte ich im Kongo meine Ruhestätte unter jener kleinen Kirche im Urwald finden können.

 

Nun sind sie alle fort und mein Herz ist schwer vor Sorge, dass ich eines Tages auch noch von Deinem Tod lesen könnte. Das würde mir das Herz brechen. Deswegen musste ich abreisen. Deswegen hatte Hugh Recht, Dich schützen zu wollen. Ich bringe den Menschen um mich kein Glück. Bei Gott, ich wünschte, es wäre anders. Aber so ist es. Und darum war es nicht recht von mir zu hoffen, dass Du, meine treue und tapfere Freundin, die Schrecken meines Lebens teilst. Du wärst bereitwillig für mich da gewesen, hättest mich verstanden und mir geglaubt, dessen bin ich mir gewiss. Aber es wäre wohl nicht recht gewesen. Und alleine das Wissen, dass dort jemand ist, dem ich mich anvertrauen kann, tröstet mich sehr. Ich bin daher oft in meinen Gedanken bei Dir.

 

Die Rückreise nach Irland empfand ich dann selbst mehr als eine Flucht. Das erhoffte Gefühl einer Heimkehr wollte sich nicht einstellen. Schon als ich meinen Fuß auf den Bahnsteig setzte, hatte ich das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Im Zug setzte sich dann ein Russe in mein Abteil. Nach den Aufklebern auf seinem Koffer muss er weit gereist sein: Die Aufkleber, die ich sehen konnten, gaben Zeugnis von Reisen mit der transsibirischen Eisenbahn, von Aufenthalten in Skandinavien, Deutschland, dem Balkan, Frankreich und schließlich England. Ein verschlossener Mann, der als strenggläubiger Jude ständig in einem Buch las, ich vermute in der Bibel. Und doch fühlte ich mich auch von diesem Mann beobachtet. So fuhren wir schweigend gen Cardiff, wo ich mit viel Glück noch am selben Tag eine Passage über den St. George’s Channel buchen konnte. Ich brauche wohl kaum noch zu erwähnen, wen ich an Deck des Seglers wenig später in sein Buch vertieft erblickte.

 

Als ich mein grünes Irland betreten hatte und endlich wieder auf meinem eigenen Grund und Boden stand, erwartete mich bereits ein neuerlicher Schrecken. Zu meinem Haus gehört ein abgelegenes Bootshaus, das langsam verfällt, weil ich keine Verwendung dafür habe. Dort hat man eine Leiche entdeckt, während ich in London war. Ein Mann, möglicherweise ein Landstreicher. Der Mord muss während meiner Abwesenheit geschehen sein. Das schreckliche war, dass überall in den Körper unzählige Nägel eingeschlagen wurden. Der Tote war hergerichtet worden. Den Bauch des Toten hatte man aufgeschnitten. Darinnen fand der Arzt, der den Totenschein ausstellte, die abgetrennte, geräucherte und getrocknete Hand eines Afrikaners, eines jener abscheulichen Andenken, die manche ‚zivilisierten‘ Menschen erwerben, um damit ihre morbiden Gelüste nach Grusel in ihren sicheren vier Wänden zu befriedigen oder an einem heiteren Abend die Damen zu erschrecken. Die Polizei glaubt, der Mord sei von einem Geisteskranken mit strenger katholischer Erziehung begangen worden. Sie geht von einer Art Ritualmord aus, der sich auf den Heiligen Sebastian beziehen soll. Es spricht alles dafür, dass das arme Opfer noch lebte, als die Nägel in seinen Körper getrieben wurden. Die Hand, die von einem Kind oder einer Frau zu stammen scheint, führt die Polizei auf den krankhaften Geist des Täters zurück, ohne nach einer weiteren Erklärung zu suchen.

 

In Wahrheit war Tote aber eine Botschaft an mich. Davon bin ich überzeugt. Nur würde mir das niemand glauben. Der Tote soll mich an die Nagelfetische erinnern, wie sie unter den Bakongo und Mossi verbreitet sind. Und ich wage nicht, mir vorzustellen, welche Wünsche oder Flüche der Mörder mit den Nägeln verbunden haben mag. Ich weiß nicht, wer und warum, aber jemand versucht mich in Furcht zu versetzen. Wenn ich in den Nächten durch mein verlassenes Haus gehe und aus dem Fenster in die Dunkelheit blicke, fühle ich mich belauert. Unter dem Rauschen der Bäume vermeine ich ein leises Echo des gurgelnden Kongo zu vernehmen. Die Äste der Bäume scheinen mich heranzuwinken, heraus aus den uralten Mauern meines Hauses. Es ist wie auf Herm, in jener finsteren Nacht, als ich nach Dir und Paul suchte und zunächst den blutigen Spuren ins Freie folgte. Selbst das uralte Gebälk meines Hauses scheint sich dann zu regen und sich knackend und knarrend an seine wilden Zeiten im Wald zu erinnern. Das Meer in mir tobt.

 

Du siehst, es steht mit mir nicht zum Besten. Dr. Clark hätte seine helle Freude an mir!

 

Ich wollte mir einreden, dass es diesen Toten in Wirklichkeit gar nicht gäbe, ich ihn mir eingebildet hätte, weil lediglich meine Wahrnehmung unter einer Nachwirkung des Traumas von Herm litte. Aber so ist es leider nicht. Die Polizei hat mich aufgesucht. Sobald ich mich nicht mehr zu ihrer Verfügung halten muss, werde ich daher wieder meine Koffer packen und Brücken abreißen. Im Kongo bin ich mit dem Bösen in Berührung gekommen und seither folgt es mir langsam und geduldig nach. Ich habe es auf Herm gespürt. Und ich spüre seine Nähe jetzt. Ich muss in Bewegung bleiben.

 

Ich werde Dich wissen lassen, wo Du mich erreichen kannst, wenn es so weit ist.

 

Ich hätte Dir gerne von Spaziergängen durch die leuchtenden Wiesen meiner Vorväter erzählt, von ruhigen Abenden vor dem Kamin mit einem Buch und einem Glas des guten Weins in meinem Keller. Von einem ruhigen Lebensabend in der Abgeschiedenheit meines Hauses sollte ich Dir berichten, aber das hättest Du mir wohl ohnehin nicht geglaubt.

 

Nun habe ich sehr viel über mich geschrieben. Viel zu viel! Aber worüber sollte ich in dieser Abgeschiedenheit hier auch sonst berichten? Ich hoffe, ich belaste Dich nicht zu sehr.

 

Sag, wie geht es Dir? Hast Du Pläne für die Zukunft?

 

Hat Hugh Dir jemanden vermittelt, der Dir helfen kann, die Wunden Deiner Vergangenheit zu heilen?

 

Lass bitte von Dir hören! Es würde mich sehr beruhigen, wenn ich wüsste, dass es Dir gut geht und Du Dich in Sicherheit befindest.

 

Dein Clive“

Edited by Joran
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  • 2 weeks later...

Brief, den Clive im Zimmer bei seiner Ankunft findet.

 

06.01.1930

 

Lieber Clive,

ich hoffe du bist wohlauf in London angekommen. Ich habe erst gestern deinen Brief bekommen, und mich wirklich riesig gefreut.

Ich sehe, du wirst auch bei dieser Auktion da sein. Das nenne ich Schicksaal, denn ich werde auch da sein, eigentlich aus berüflichen Gründen.

Hugh meinte, wir könnten uns bei dir im Hotel vorher treffen, so kann ich dir auch Alexander zeigen. Der kleine Mann wird immer frecher!

Es sind keine einfache Zeiten, um ehrlich zu sein, alte Schatten sind wieder in meinem Kopf, du weiss, ein wenig habe ich dir von Norwegien ja erzählt.

Wir werden am 07.01 beim Mittagessen unten hier in Hotel sein.

Ich freue mich, dich zu sehen.

 

Deine Freundin Matilde.

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  • 2 weeks later...

London 20 August 1928,

 

Lieber Clive,

wenn ich ehrlich bin, überrascht mich dein Brief, dann ich hätte nicht gedacht, je etwas von dir zu hören.

Und das nicht, weil ich schlecht von dir denke, ganz im Gegenteil, aber die Tage auf Herm waren schrecklich, und ich erinnere dich an sie, ist es nicht so?

Nicht destotrotz bin ich froh dich da kennengelernt zu haben, und nicht allein durch das Ganze hingegangen zu sein.

Ohne deine Hilfe hätte ich Pauls Verschwinden nicht verkraftet, und auch wenn die Ungewissheit mich immer noch frisst, so bedanke ich mich bei irgendeinem Gott, ich hätte es ohne dich nicht geschafft.

 

Was du über diesen Mord berichtet hast, ist schrecklich, vor allem wenn es wirklich eine Warnung für dich darstellen sollte. Aber von wem? Hast du da einen konkreten Verdacht?

Oder Beweggrund?

 

Was mich angeht, was kann ich dir sagen. Ich werde im Moment nicht behandelt, und nicht weil Hugh es nicht möchte, sondern weil ich mich weigere es weiter zu machen. Seit 1925 ist es das erstes Mal wo ich wieder frei bin. Ich war in einem Irrenhaus in Norwegen so lange, dass es mir so vorkam, als wäre ich mein ganzes Leben da gewesen. Aber was mir, zusammen mit Paul, in Norwegien damals passierte übertrifft jede Vorstellung. Als ich nach Herm kam, war ich immer noch nicht frei, ich hatte eigentlich kein recht, die Insel zu verlassen, so wie du, wenn du es gewollt hättest.

Ich fürchte mich von Psychater jetzt, denn ich habe Angst wieder irgenwohin gebracht zu werden. Ich versuche mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Hugh wünscht sich ein Kind, aber seit ich einen Fehlgeburt in Norwegien erlebt habe, bin ich nicht sicher, ob eine neue Schwangerschaft möglich ist, oder wäre.

 

Ich werde auch gejagt, ich würde dir so gerne alles erzählen, doch ich habe Angst, du würdest dich vin mir abwenden, wenn du nur wüsstest, was ich gewesen bin.

Oder immer noch bin.

 

Bitte, lass mich weiterhin wissen wie dir geht es.

 

Deine Freundin Matilde.

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  • 2 months later...

Landgut in Irland, 27. August 1928

 

“Liebe Matilde,

 

wie habe ich mich gefreut, von Dir zu hören!

 

Es ist gut zu wissen, dass Du in Sicherheit bist. Sich ein Kind zu wünschen, heißt mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Hugh scheint also zuversichtlich zu sein, dass Du wohl behütet bist.

 

Es war wohl eine gnädige Fügung des Schicksals, die uns auf Herm zusammengeführt hat. Daran glaube ich fest. Wir beide hätten diese Zeit wohl nicht ohne den Beistand des anderen überstanden. Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt habe, dann ist es, dass man wahre Freunde in kürzester Zeit erkennen kann. So ist es mir immer wieder gegangen. Und so war es auch auf Herm. Darum glaube bitte nicht von mir, ich würde mich jemals von Dir abwenden! Meine tiefempfundene Freundschaft ist Dir immer gewiss, wie schrecklich die Schatten Deiner Vergangenheit auch sein mögen!

 

Auf der Insel wurde aus Träumen Realität und die Realität wurde zum Alptraum. Unsere Träume haben sich teilweise überschnitten. Die Maske, die ein jeder von uns im alltäglichen Leben zur Schau trägt, konnte dort keinen Bestand behalten. Ich kenne nun die Schneekönigin und auch das, was unter dieser kühlen Fassade steckt. Ich habe in jenen Stunden oder Tagen in Deine Seele geblickt und ich habe nichts Böses darin erkannt … die Wildheit und Entschlossenheit einer Katze, die bedingungslose Bereitschaft um das Leben zu kämpfen, aber nichts Böses. Du bist, wozu Du von höheren Mächten geschaffen wurdest, und es ist gut so. Ich bin überzeugt, Du gehst mit Dir selbst zu hart ins Gericht. Sei Dir gegenüber ein wenig nachsichtiger. Du warst bereit, Paul seine Schwächen zu verzeihen und seine Fehler zu vergeben. Dieselbe Großherzigkeit solltest Du auch Dir selbst gewähren. Ich werde es ganz sicher tun. Wir sind alle nur Menschen und Du hast Dir Dein Wesen bewahrt, obwohl Du die schrecklichsten Erfahrungen machen musstest. Das hat zwangsläufig Spuren in Deiner Vergangenheit hinterlassen, aber es hat Dich nicht zu brechen vermocht. Hätte ich eine Tochter, wünschte ich, sie wäre zugleich stark und gütig wie Du.

 

An jenem Tag, als Du auf Herm den Zauber gewirkt hattest, bist Du ohnmächtig geworden. Ich habe Dich gerufen. Ich habe den kalten, ohnmächtigen Leib des Kindes in dieser kleinen Kammer lange in den Armen gehalten … habe ihn an mich gepresst, wie ein Vater sein schlafendes Kind. Obwohl es in dieser Traumwirklichkeit der Leib dieses Mädchens war, wusste ich doch, dass Du darin gefangen warst. Ich habe sogar Dich gesehen! Du warst nicht mehr Du selbst, Paul war verschwunden, überall war Blut und dann noch diese Leiche in der Halle … Ich war verzweifelt und eine Stimme in mir lockte meinen Verstand, um ihn in eine ewige Leere zu führen. Die Versuchung war groß … so groß … endlich loszulassen und Frieden zu finden. Aber in diesem Moment meiner Schwäche, kehrte die Kraft in Deinen Leib zurück und mit ihr die Wärme. Deine Nähe, die Wärme Deines Körpers, die mir bewies, dass trotz aller Schrecken an diesem Ort noch Leben war, hat mich vor einer endgültigen Abkehr von dieser Welt bewahrt. Ich habe mich damals für das Leben entschieden. Ich habe mir geschworen, Dich zu schützen und – soweit es in meiner Macht stehen sollte – von den Folgen dieses unheiligen Zaubers zu heilen. An diesen Schwur fühle ich mich weiterhin gebunden. Genauso wie an unseren gemeinsamen Pakt, Paul nicht zu vergessen und weiter nach ihm zu suchen. Du hast mich damals genauso gerettet, wie ich Dich. Wie könnte ich mich nach alldem von Dir jemals abwenden?

 

Ich verstehe, dass Du Dich keinem Psychiater mehr anvertrauen willst. Diese Disziplin steckt ohnehin noch in ihren Anfängen. Die wenigsten Ärzte wissen tatsächlich, was sie tun … und welchen Schaden sie mitunter aus Unkenntnis anrichten. Die Erkenntnisse über den menschlichen Geist sind noch nicht viel größer, als das Wissen der Ärzte der Antike über den menschlichen Körper. Ein Psychiater ist wie ein Hippokrates der Neuzeit: bestenfalls ein Wegbereiter, der dem Aberglauben an gottgesandte Krankheiten den Rücken kehrt und die Tür zur Wissenschaft aufstößt. Aber wie Hippokrates noch an die griechische Lehre von den vier Körpersäften glaubte, sind die Erkenntnisse dieser Wissenschaft noch sehr gering und zu oft mangelhaft.

 

Wenn Du Dich aus verständlichen Gründen keinem Arzt anvertraust, dann solltest Du doch mit jemandem über Deine Erlebnisse reden. Die Schatten der Vergangenheit in sich einzusperren, verfinstert die Seele. Und eine finstere Seele ist eine schwere Bürde. Ich weiß das nur zu genau. Und ich hatte gehofft, wir könnten uns gegenseitig von dieser Bürde erleichtern. Aber vielleicht kannst Du Dich inzwischen Hugh anvertrauen?

 

Ich habe in meinem Haus Gesellschaft erhalten. Vor ein paar Tagen habe ich einen jungen Burschen, Cainnech, hier aufgenommen, den ich schon kenne, seit er noch ein Junge war. Seine Familie lebt in einem Dorf hier in der Nähe. Ich habe seinen Vater im Krieg in Flandern in einem Feldlazarett gefunden und Heim gebracht. Seitdem besuche ich die Familie regelmäßig und wir sind ... gute Nachbarn geworden. Die Familie hat manchen Grund, mir dankbar zu sein. Cainnech ist eben von seinem Dienst beim Aer Chór na hÉireann zurückgekehrt. Das ist die junge irische Luftwaffe. Jetzt, nachdem er die Himmel erobert hat, scheinen ihm das Cottage seiner Eltern und das heimische Dorf zu klein geworden zu sein. Das einzige, was der Junge will, ist fliegen. Das untätige Warten hier macht ihn verrückt. Hier gibt es weit und breit kein Flugzeug. Aber es gibt Menschen, die ihm anbieten, wieder zu fliegen, wenn er sich ihrer Sache anschließt. Aber das ist keine gute Sache, über die ich hier besser nicht schreibe. Seine Mutter Máirín war außer sich vor Sorge und bat mich um meinen Rat. Um Cainnech eine Aufgabe zu geben und damit ich ihn im Auge behalten kann, habe ich ihn hier aufgenommen und angestellt. Offiziell soll mich schützen, falls der ‘Sebastians-Mörder‘, wie die Menschen ihn hier nennen, zurückkehren sollte. Das ist eine Aufgabe, die er als Verpflichtung empfinden und nicht aufgrund der Verlockungen irgendwelcher Extremisten vernachlässigen wird. Sein Gefühl, mir diesen Dienst zu schulden, wird Cainnech davon abhalten, diesen Männern zu folgen und Unglück über seine Familie zu bringen.

 

Cainnech ist ein braver Bursche. Ich habe beschlossen, ihn zu unterrichten. Vielleicht kann ich in ihm einen Wissendurst wecken, der ihm die Abstinenz vom Fliegen erträglicher macht.

 

Ich weiß weder, ob und wann die Täter wieder zuschlagen, noch ob Cainnech mich schützen könnte. Immerhin bin ich jetzt nicht mehr ganz alleine hier in diesem großen Haus. Die Polizei glaubt weiterhin, der Tote im Bootshaus sei das Werk eines Geisteskranken. Ich wünschte mir, dass es so wäre, aber ich weiß es besser. Auch in meiner Vergangenheit gibt es Schatten, die mich verfolgen. Ein Jäger hat in der letzten Woche eine verborgene Stelle im Unterholz des Waldes, wenige Meilen von hier, gefunden. Dort fanden sich wohl eine große Zahl von Tierkadavern, die in ähnlicher Weise mit Nägeln zu Tode gemartert wurden. Das ganze muss sich über einen Zeitraum von vielen Monaten, vielleicht sogar Jahren, hingezogen haben. Die Menschen hier werden unruhig. Das Gerücht von einer satanischen Sekte macht die Runde. Pater Breandán ist mit seinen Messdienern, bewaffnet mit Weihrauch und Weihwasser, ausgezogen und hat den Ort ’gereinigt‘. Das hat die Ermittler nicht besonders erfreut, weil die Spuren noch nicht vollständig gesichert worden waren. Nun wird man nicht mehr feststellen können, ob dort nur ein Mensch sein Unwesen getrieben hat oder ob es sich um mehrere Täter handelt. Aber wenn es auch sonst zu nichts nutze war, hat der eifrige Pater die gläubigen Menschen hier ein wenig beruhigt. Wie mir Inspektor McFlaherty erzählte, waren in die Bäume, die den Platz umstanden, merkwürdige Zeichen und Tierbilder geschnitzt. Aber der brennende Eifer des Paters hat auch hiervor keinen Halt gemacht. Ich hätte mir diesen Ort gerne angesehen, aber nun ist es zu spät.

 

So wende ich mich wieder meinen Studien zu und halte mich zur Verfügung der Polizei.

 

Wenn ich nicht schlafen kann, blicke ich in die Nacht und frage mich, ob dort in der Finsternis etwas lauert. Manchmal scheint mir alles so surreal wie damals auf der Insel. Dann habe ich Angst, dass mich die Kräfte, die uns auf Herm aus Raum und Zeit gerissen haben, hier erneut packen und mich in den Alptraum von damals zurückschleudern könnten. Meine Träume werden in diesen Tagen wieder intensiver und es wird schwerer, Hirngespinste von Wirklichkeiten abzugrenzen. In der letzten Nacht habe ich von dem merkwürdigen Juden geträumt, von dem ich Dir bereits geschrieben habe. Er wanderte mit seinem Koffer über eine Straße, die ich kenne. In meiner Bibliothek habe ich eine Schrift, die sich mit der Frage befasst, ob es nach dem mosaischen Gesetz den Juden erlaubt ist, Magie auszuüben. Es ist dort unter anderem von dem legendären okkulten Wissen des König Salomo die Rede und von der schöpferischen Kraft der göttlichen Universalsprache, der Quabbalah, den Kräften eines Theurg. Ich sollte mich mit diesen Themen wohl eingehender befassen.

 

Jenseits solcher düsterer Momente gehen die Tage hier schleichend langsam voran. Ich sitze hier fest und warte, ohne zu wissen worauf. Dann bin ich in Gedanken bei Dir. Ich wünsche Dir von Herzen, dass Deine Hoffnungen sich bald erfüllen.

 

Ich freue mich, wenn Du auch mich nicht vergisst und mir ab und zu ein paar Zeilen sendest. Ich hoffe, Hugh hat hiergegen weiterhin keine Einwände.

 

Dein Clive

Edited by Joran
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