Jump to content

[Nightmare Bites] Kap.1 NP: UNTER 4 AUGEN


Der Läuterer
 Share

Recommended Posts

DAS BÜRO - Nebenzimmer

37 Tottenham Court Road

Dienstag, 07.01.1930, früher Abend

 

"Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Clive."

 

"Und ich wollte mit Ihnen unter vier Augen sprechen können. Matilde muss nicht alles über mich wissen und auch nicht über Sie, denn auch Sie haben ja Ihre Geheimnisse, nicht wahr?"

 

Hans steht auf und geht in den Nebenraum. Du hörst, wie eine Schublade geöffnet und wieder geschlossen wird.

 

Hans kommt zurück und hält ein Dossier in den Händen. "Neugierig, Clive?"

Link to comment
Share on other sites

Ich greife nach der Akte, die Hartmut mir herüber reicht.

 

"Was soll das jetzt wieder? Hartmut hat eine Akte über mich angelegt? Er hat Nachforschungen über mich anstellen lassen?"

 

Widerstreitende Gefühle ringen in mir. Einerseits verstehe ich, dass er Matilde schützen will. Andererseits fühle ich mich in meiner Privatsphäre verletzt.

 

"Ich hätte keine Bedenken, Matilde einzubeziehen... Es gibt kaum einen Menschen, dem ich mehr vertrauen würde.

 

Aber sehen wir erst einmal, welche Geheimnisse Sie aufgedeckt haben."

 

Dann öffne ich die Akte und beginne zu lesen. Aber meine Gedanken kreisen immer wieder um meine Habe in der Pension, so dass ich mich anstrengen muss, mich auf den Text zu konzentrieren.

Link to comment
Share on other sites

"Ich habe mich nie um Ihre Korrespondenz mit Matilde gekümmert, Clive. Das ist etwas zwischen Ihnen beiden. Ich respektiere das. Nicht, dass es mich nicht interessieren würde, aber... Nun, das ist privat."
Link to comment
Share on other sites

"Nun, die Akte, die Sie gerade in den Händen halten... sie ist sicher nicht vollständig. Sie weist grosse Lücken auf. So etwas kostet Zeit und Mühen. Sie verstehen das sicher. Ich bin ein neugieriger Mensch. Und es war sehr interessant für mich etwas über Sie zu erfahren. Das öffnet mir den Blick auf den Menschen. Auf Sie, Clive."

 

"Matilde weiss nichts über diese Nachforschungen. Ich würde es begrüssen, wenn das auch so bleiben würde."

Link to comment
Share on other sites

"Sie hätten mich einfach fragen können, Hartmut. ... Aber lassen wir das. Es dürfte unterhaltsam und vielleicht sogar ein wenig erhellend sein, sich selbst aus der Sicht eines Dritten kennenzulernen."

 

Langsam werde ich neugierig. "Wer soll mich auf meinem einsamen Anwesen in Irland beobachtet haben und welche Erkenntnisse sollte er dabei schon von außen gewonnen haben? Und was könnten das für Informationen sein, von denen Matilde nichts erfahren soll? Sie ist schließlich meine ... nun, sie ... sie hätte meine Tochter sein sollen."

 

Ich wundere mich selbst ein wenig, mit welcher Distanz ich die Akte nach einem ersten Anflug von Verärgerung plötzlich betrachte. Vielleicht liegt es daran, dass ich hier nur ein Bild der Vergangenheit finden werde, ein Bild vor meinem Besuch in London, ein Bild vor ... was auch immer dort in der Änderungsschneiderei geschehen ist.

Link to comment
Share on other sites

"Irgendetwas stimmt hier ganz und garnicht. Der Mönch soll mich verfolgt haben? Wenn es ein Mönch gewesen wäre, ein christlicher Mönch ... warum hätte er mich nicht ansprechen sollen? Warum sollte er mit Gewalt an einer Frau und einem Kind drohen? ... Ich bewahre nur, was mir zugefallen ist. Ich habe keinen endgütligen Anspruch darauf. Ich suche jemanden, an den ich IHN einmal weitergeben kann, jemanden, der die Bürde verantwortungsvoll tragen kann!"

 

Ich denke an den Glanz, der von dem Mönch ausging. Ein Glanz, wie die Menschen ihn Engeln zuschreiben. Das war mein erster spontaner Gedanke, als ich den Fremden sah: "... fast wie ein Engel!", war es mir vorgekommen. "Wäre das möglich?

 

Soll diese von einem unnatürlichen Glanz umspielte Gestalt die finstere Macht gewesen sein, die damit gedroht hat, Matilde und Alexander etwas anzutun? ... mit einer Handgranate? Eine Gefühl in mir will mich dies nicht glauben lassen.

 

Zwar habe ich selbst in der Änderungsschneiderei kurz überlegt, ob ich das Ziel sein könnte und man Matilde und Alexander von mir trennen wollte, damit die beiden nicht bei dem stören können, was ... wer auch immer ... mit mir vorhatte. Aber das ergab wenig Sinn."

 

Wieder frage ich mich, ob Hartmut mich hier absichtlich auf eine falsche Spur setzen will, ob dies der Grund ist, aus dem Matilde nichts von diesem Gespräch erfahren soll ... weil er im Begriff ist, mich für seine Zwecke in einer Weise zu benutzen, die Matilde nicht billigen würde. Aber die Widersprüche sind doch sehr offensichtlich. Vielleicht ist Hartmut zum Handeln gezwungen, ohne dass er sich lange einen Plan zurechtlegen konnte?

 

Die Worte des Anrufers und des Wesens in der Änderungsschneiderei hallen in meiner Erinnerung wieder:

 

"Der Anrufer im ersten Telefonat kannte nicht einmal meinen Namen. Meine Bedeutung beschränkte sich für ihn auf meine Nähe zu Matilde: 'Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass ich mit dem Begleiter von Madame Visconti spreche. Hören Sie einfach zu und unterbrechen Sie mich nicht. Mein Name ist unwichtig. Sie sind es auch. Ich denke, dass ich nicht konkreter werden muss. Sie haben sicher einen langen Weg hinter sich... deshalb möchte ich nicht Ihre Zeit stehlen. Ihrem Aussehen nach sind Sie kein Leibwächter. Stratton hat Sie also nicht aufgrund Ihrer Fitness kommen lassen. Sie müssen andere Qualitäten haben, Herr Spezialist.'

 

Nein, der Anrufer wusste ganz offensichtlich nichts mit mir anzufangen.

 

'Ich werde sie benutzen. ... Sie wird mich zu dem Mann und dem Sohn bringen. ... Und jetzt. Willst Du mich aufhalten? ... Gib sie MIR!', hat das Wesen an der Tür gesagt.

 

Ebenfalls kein Hinweis darauf, dass es um mich gegegangen wäre."

 

Während ich beginne, die Akte zu lesen, sage ich nachdenklich zu Hartmut ohne dabei den Blick zu heben:

 

"Nein, Sie irren sich, wenn Sie meinen, das ganze heute hätte nichts mit Matilde, Ihrem Sohn und Ihnen zu tun. Selbst wenn der 'Mönch' mich gesucht haben sollte ... wofür ich noch keinen Anhaltspunkt sehe ... galten die Drohungen ganz eindeutig Ihnen. Der Anrufer war bestens über Sie und Ihre Familie informiert. Er kannte selbst Matildes Mädchennamen. Dieses Wesen in der Änderungsschneidere wollte ausdrücklich an Sie und Ihren Sohn herankommen. Matilde war nur Mittel zum Zweck ... und ich noch weniger als das, nicht mehr als ein lästiges Hindernis. Und diese ... Interessengruppe ... muss uns bereits seit dem Restaurant gefolgt sein, damit sie uns in der Teestube finden konnte. ... Ob allerdings der 'Mönch' dazugehörte, erscheint auch mir fraglich ... er fügt sich jedenfalls nicht recht in das Gesamtbild ein. ... Vielleicht handelt es sich bei ihm garnicht um einen Gegner."

Link to comment
Share on other sites

"Natürlich hätte ich Sie einfach fragen können, Clive. Und ich hätte es vermutlich auch getan... mit meinem jetzigen Wissen über Sie."

 

"Sie erinnern sich an den Spätherbst 1917? Das belgische Dorf Passendale?"

 

"Es wurde von britischen Truppen erobert, die doch nur wieder von den Deutschen zurückgedrängt wurden. Allein 16.000 tote Briten. Herbeigeschafft und dahingerafft. Nur um in einem sogenannten ehrenvollen Krieg für ein höheres Ziel abgeschlachtet zu werden. Und all diese Opfer nur für dieses eine Dorf. Erkrankte, Verwundete, Vermisste nicht mitgerechnet."

 

"Wofür? Für ein unbedeutendes, unbekanntes Dorf. Irgendwo im Nirgendwo. Und auf kaum einer Karte zu finden. Einige hundert Meter Raumgewinn. Eine Handvoll Dreck. Nicht viel mehr."

 

"Das Wetter war schrecklich. Novemberwetter. Wolkenverhangen. Schlechte Sicht. Zuerst dichter Nebel. Dann regnete in einem fort. Der Boden war schlammig und tückisch. Kranke Soldaten standen in der Kälte, in überfluteten Schützengräben, tranken fauliges Wasser und mussten schimmeliges Brot essen."

 

"Erinnere Dich, Clive. Erinnere Dich worauf sie warteten... und was mit ihnen geschah."

 

"Sie warteten darauf, dass das schrille Geräusch der Trillerpfeife des Offiziers ertönte, welches sie über das Niemandsland ins Sperrfeuer und den Stacheldrahtverhau treiben sollte. Danach sammelten die Sanitäter die Überreste der Männer ein, während sie durch den Morast wateten. Die Ärzte, wie Sie, standen knöcheltief im Blut, die Hände in den Eingeweiden der Verletzten, und flickten zusammen was sie konnten. Kaum Verbandsmaterial, kaum Betäubungsmittel."

 

"Soldaten kamen ins Lazarett, die von Kreaturen berichteten, die dem Nebel entstiegen sein sollen. Viele glaubten dabei an eine Art multiplen Fieberwahn. Was haben Sie gesehen, Clive?"

 

"Irgend etwas muss passiert sein, denn als der siegreiche General Douglas Haig hinter die Linien kam, um seine Truppen zu besuchen und seinen heroischen Sieg zu feiern, da steht ein Militärarzt namens Savage im Feldlazarett Hoogestadt auf, der mittlerweile zum Major befördert wurde, und nennt Sir Haig einen 'Mkubwa Mkongwe Moja Mchinjaji'. Das nenne ich mutig. Das nenne ich unverfroren. Das nenne ich grössenwahnsinnig. Zum Glück konnte Haig kein Swahili. Und zum Glück hat die südafrikanische Krankenschwester dem General nicht übersetzt was Sie sagten. Wer wird schon gerne 'Grosser Alter Schlachter' genannt. Vor allem nicht, wenn es stimmt. Das nenne ich Glück. Es hätte nicht viel gefehlt und Sie wären wegen Insubordination füsiliert worden."

Edited by Der Läuterer
  • Like 2
Link to comment
Share on other sites

"Ja, natürlich. ... Ich erinnere mich. ... An die Kälte und den Nebel. ... Ich war noch nicht lange aus dem Mittleren Osten zurückgekehrt. ... Ein Jahr zuvor saß ich noch in Medina fest. ... Europa war ein kalter, finsterer Abgrund damals.

 

Sechzehntausend arme Männer völlig sinnlos in den Tod getrieben. Obwohl General Arthur Currie es genau so vorausgesagt hatte. Es war ein schreckliches Gemetzel. Wir sollten uns auf eine große Zahl von Verwundeten vorbereiten ..." Ich lache grimmig. "Wie hätten wir uns auf solche Massen von Verwundeten vorbereiten sollen? Und das war nur die zweite Welle. Bei der ersten Offensive keinen Monat zuvor waren bereits 10.000 Männer gefallen. Haig war in meinen Augen von Wahnsinn getrieben ... wie so viele damals. ... Er wurde später in den erblichen Adelsstand erhoben. Da passte er auch hin, der Bastard!

 

In Flandern war der Tod allgegenwärtig. Die Männer schliefen neben ihren toten Kameraden, weil sie sie nicht beerdigen konnten ... bis die nächste Granate die Lebenden und die Toten gleich gemeinsam begrub. In solchen Situationen wird man verrückt oder man beginnt, dem eigenen Tod mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Letzteres fiel mir immer leicht. Andere Dinge machten mir zu schaffen ..."

 

Ich erinnere die Schreie der Soldaten ... oft mehr Knaben als Männer ... ihr Flehen um Hilfe ... die vielen, die ich aufgeben musste, um wenigstens ein paar von ihnen retten zu können. Die Selektionen, die ich durchführen musste. ... Ich fühle Tränen aufsteigen, aber ich unterdrücke diesen Impuls. "Das ist Deine Vergangenheit ... Geschichte nur ... nicht Deine Gegenwart ... nicht länger Deine Zukunft!"

 

Ich blicke von der Akte auf und unterbreche mein Studium derselben, blicke Hartmut in die Augen. Meine Stimme nimmt einen kalten Ton an, als ich antworte:

 

"Ja, ich erinnere mich nur zu gut an diese Zeit. Manche glaubten auch, die Deutschen hätten ein neues Nervengas eingesetzt, das Halluzinationen hervorgerufen habe. Aber das glaubte ich nicht. ... Es war komplexer ... und es hätte auch nicht die Übereinstimmungen der Schilderungen erklären können."

Edited by Joran
  • Like 1
Link to comment
Share on other sites

"Nachdem Sie an der Columbia '97 graduiert hatten, Clive, reisten Sie durch Europa und verbrachten einige Semester an unterschiedlichen Universitäten. Zuerst das Trinity College in Dublin, dann gingen Sie nach Edinburgh ans Old College, danach nach Oxford. "

 

"Dann gingen Sie '99 zurück nach Amerika. Doch diesmal nach Südamerika. In Venezuela studierten Sie zwei Semester an der Ciudad Universitaria de Caracas. Infektiologie und Toxikologie."

 

"Im Jahre 1900 schlossen Sie sich einer Expedition an, die von dem Amerikaner Herbert Walters geleitet wurde, welcher die Ursprünge des Orinoko erforschen wollte. Walters beschäftigte sich damals mit der Hominologie. Affenmenschen und Stämme bislang unerforschten Eingeborener."

 

"Nach wenigen Monaten hörte man nichts mehr von der Expedition. Keine Handelsstation hatte Sie mehr zu Gesicht bekommen. Fast zwei Jahre später wurden Sie und Sir Roger Casement in einem Einbaum auf einer Sandbank des Rio Negro aufgefunden."

 

"Sie wurden im Krankenhaus einer Missionsstation gesund gepflegt und ärztlich untersucht. Sie sollen zahlreiche Verletzungen aufgewiesen haben. Die meisten davon waren aber bereits wieder vernarbt."

 

"Der Rest der Expedition blieb verschollen. Drei Amerikaner, zwei Briten und 21 Venezolaner."

 

"In Manaus entzogen Sie sich den Behörden und heuerten auf einem arabischen Frachter an, der Sie und den anderen Überlebenden nach Lagos brachte."

 

"Sie werden in Venezuela und Brasilien wegen Mordes gesucht, nachdem man in Ihrem Boot die Schrumpfköpfe von zwei Weissen gefunden hatte. Tsantsas von Weissen sind illegal, wussten Sie das denn nicht?"

  • Like 2
Link to comment
Share on other sites

Verwundert nehme ich die Wendung zur Kenntnis, die dieses Gespräch zu nehmen scheint. "Ist dies nun ein Verhör? Wann kommt Hartmut zu den Punkten, aus denen er einen Zusammenhang zwischen mir und den heutigen Ereignissen ableitet?"

 

"Die Mordvorwürfe waren absurd. Warum hätte ich Schrumpfköpfe von Menschen anfertigen sollen, die ich getötet habe?

 

Wissen Sie, welchen Zwecken die Herstellung von Tsantsas bei den Indios dient? Mittels komplexer Rituale soll die Lebenskraft eines Feindes auf den Kopfjäger übergehen, um ihm Jagderfolg, reiche Ernte und Kriegsglück zu bescheren. Welche Verwendung sollte ich für solche Attribute haben, frage ich Sie? Sie können auf der Grundlage von Wertvorstellungen und Logik der europäschen Industrienationen nicht die Denkweise eines indianischen Kopfjägers verstehen. Daher ist es völlig abwegig, dass ich diese Schrumpfköpfe angefertigt haben soll.

 

Die Wahrheit ist gerade umgekehrt. Ich wollte diesen Köpfen ein christliches Begräbnis in ihrer Heimat zuteil werden lassen. Was hätte ich stattdessen tun sollen? Die Köpfe im Urwald verscharren?"

 

Ich blicke Hartmut verständnislos an.

 

"Ich kann auch nicht erkennen, was das mit den heutigen Ereignissen zu tun haben soll. Vielleicht sagen Sie mir einfach geradeheraus, worauf Sie hinaus wollen?"

Edited by Joran
Link to comment
Share on other sites

"Ich klage Sie nicht an, Clive. Ich dachte mir so etwas bereits. Es ist nur das, was mir berichtet wurde. Die Behörden vergessen so etwas nicht."

 

"Clive, Sie sind verdammt weit herum gekommen. Sie haben viel gesehen und erlebt und auch so einiges durchgemacht. Sie sind dabei sicher auch manch unerklärlichen Dingen begegnet, oder? Ich meine nur, dass sich vielleicht der ein oder andere Schatten der Vergangenheit wieder bemerkbar macht."

Link to comment
Share on other sites

"Ja, in meiner Vergangenheit gibt es Schatten, das will ich nicht in Abrede stellen. Aber da gibt es wenige Menschen, die ich mir zu Feinden gemacht hätte ... ich meine Personen, deren Namen ich kennen würde. Es kann durchaus Menschen geben, die mir nachstellen ... im Auftrag anderer.

 

Im Sommer 1928 wurde eine Leiche auf meinem Anwesen gefunden. Der arme Mann war grausam ermordet worden. Die Tat eines Wahnsinnigen ... glaubt die Polizei. Ich bin anderer Ansicht. Die ... Umstände ... die Art, wie der Mann ermordet wurde ... lassen nur den Schluss zu, dass dies als Botschaft an mich gemeint war.

 

Ich habe ein paar ... Relikte ... in meinem Besitz, denen andere sicherlich einen erheblichen Wert beimessen würden. Ein paar sehr alte Schriften oder Abschrichten sehr alter Schriften. Und ein paar ... Gegenstände.

 

Dinge, die nach dem heutigen Stand unserer Wissenschaft kaum erklärt werden können, habe ich einige gesehen. Manches davon ist vermutlich recht unspektakulär ... anderes hingegen ....

 

Aber das alles ist recht vage. Wie Sie schon sagen, ich war an vielen Orten dieser Erde, die erst wenige Europäer je betreten haben. Wo soll ich also zu suchen beginnen? In Flandern? In Afrika? Das waren jedenfalls wohl die dunkelsten Momente meines Lebens ... jeder auf seine Weise. Aber im Herzen Afrikas liegt der Ursprung meines ... Lebenswegs. Afrika hat mich ... verändert ... und nie wieder aus seinen Fängen gelassen.

 

Dennoch frage ich Sie: Was genau gibt Ihnen Anlass zu der Vermutung, dass dieser 'Anschlag' vom heutigen Tage sich gegen mich gerichtet haben könnte und nicht gegen Sie? Es muss doch einen konkreten Anhaltspunkt geben, der Sie zu dieser Überzeugung gebracht hat ... etwas, das über den Umstand, in London bislang nicht behelligt worden zu sein, hinausgeht ... etwas, das Sie in dem Restaurant gesehen oder nach unserer Abfahrt mit dem Taxi beoabchtet haben? Für mich scheint es noch immer offensichtlich, dass Sie das Ziel der Übergriffe waren.

 

Und warum soll Matilde nichts von alldem wissen? Sie ist genauso in Gefahr wie wir! Sie muss wissen, wovor sie sich schützen soll! ... Es verletzt sie, von Ihnen nicht ins Vertrauen gezogen zu werden. Aber das wissen Sie selbst und Sie werden Ihre Gründe haben ... aber es ist schwer zu verstehen für mich als Außenstehenden ... und für Matilde.

 

Matilde macht sich große Sorgen! Sie ist bereit, sich von Alexander zu trennen, damit Sie mit dem Jungen fliehen und ihn schützen können. ... Aber dem Jungen die Mutter zu nehmen, wäre das richtig? ...

 

Wenn ich die Ursache für diese Bedrohungen sein sollte, würde ich London selbstverständlich schnellstmöglich verlassen! Das Wohl von Matilde ... und Alexander ... liegt mir sehr am Herzen. Ich will sie sicherlich nicht in Gefahr bringen. Aber bin ich die Ursache? Ich kann es kaum glauben!

 

Darum sagen Sie mir bitte, was Sie wissen! Und lassen Sie uns Matilde einbeziehen. Da gibt es nichts, was ich vor ihr geheimhalten müsste ... auch nicht die Schatten meiner Vergangenheit. Ich bin sicher, sie wird auch das verstehen."

Edited by Joran
  • Like 1
Link to comment
Share on other sites

"Lassen Sie mich etwas weiter ausholen, Clive. Ich weiss, dass Sie mehr wissen, als Sie zugeben können oder wollen."

 

"Es gibt viele Erscheinungen, vielleicht sind es sogar Begegnungen, die man den Albträumen zuschreibt oder dem Wahnsinn. Doch hinter dem Schleier der vermeintlichen Sicherheit unserer Welt, lauert eine andere Realität. Ein Zerrbild unserer Realität, das unser Wirklichkeit als Trugbild entlarvt. Eine erschreckend verstörende Welt."

 

"Ich weiss, dass Sie von dieser anderen Seite wissen, Clive. Und ich weiss auch, dass Sie dieses Wissen nicht mehr ertragen haben und sich deshalb von dieser Welt abwendeten und sich selbst in das Sanatorium auf Herm einwiesen."

 

"Was ich nicht herausfinden konnte, ist, was das Schlüsselerlebnis für diese Entscheidung war. Oder war es schlicht das Gewicht der Summe aller Begebenheiten Ihrer Reisen?"

 

"Matilde hat die Grenze zu dieser anderen Welt bereits auch überschritten. Sie hat diese Welt gesehen. Sie hat sie betreten. Sie hat den Witiko gesehen und sein Wüten erlebt, als sie auf der Lodge in Norwegen war. Das Wesen wird in den Legenden auch Wendigo genannt und der Glaube an ihn ist bei den Indianern, besonders bei den Assiniboine, den Cree und den Ojibwe weit verbreitet, die ihn als Ithaqua kennen. Diese Kreatur oder dieser Geist ist ein riesiges Wesen von äusserst grosser spiritueller Macht und stellt bei den Indianern ein Taboo dar. Es besitzt Wesenszüge eines Monsters und eines Menschen. Ihm wird die Eigenschaft nachgesagt, verirrte Seelen zu jagen. Und es wird mit kannibalischen Ritualen und Blutopfern in Verbindung gebracht."

 

"Die Lodge wurde dann von Fabelwesen angegriffen, die in Norwegen als Trolle bezeichnet werden und über die man Geschichten erzählt, um Kinder zu erschrecken. Wesen aus alten Mythen und Sagen. Aus einer Zeit vor der Christianisierung Nordeuropas."

 

"Diese Trolle sind ein altes Volk von stark behaarten, bärigen Affenmenschen. Kannibalische Humanoide, die noch immer in der Steinzeit leben. Die Gnophkeh. Sie lebten vor der Eiszeit im Gebiet des heutigen Grönland. Und sie opfern noch immer einem Gott, den sie Rhan-Tegoth nennen. Sie leben in kalten, bergigen Regionen, z.B. Norwegen oder dem Himalaya. Das Volk der Sherpa in Nepal nennt sie Yeti - Felsentier. Die Gnophkeh werden in Tibet Gang Mi genannt - Gletschermann. Die Lepcha in Darjiling und Bhutan haben in ihrer schamanistischen Religion namens Mun viele Sagen über den Yeti und nennen ihn Chumung - Schneegeist."

 

"Als Sie von Siam nach Kalkutta kamen, gingen Sie nach Norden. Sie machten sich in Richtung Himalaya auf. Im Darjiling-Gebiet heuerten Sie Träger an und machten sich in Richtung Tibet auf. Es heisst, Ihr Ziel sei Lhasa gewesen. Wollten Sie aus der Weisheit seiner Heiligkeit, des 13. Dalai Lama Thubten Gyatsho, schöpfen, Clive?"

Link to comment
Share on other sites

"Wollen Sie nur herausfinden, ob ich bereit bin, über die Grenzen dessen hinauszublicken, was die Professoren an unseren Universitäten als absolute Wahrheit verkünden? Dann können wir das abkürzen:

 

Ich weiß wovon Sie reden. Auch ich habe Dinge gesehen, die weit jenseits dessen liegen, was sich die Wissenschaftler träumen lassen oder auch nur ansatzweise erklären könnten. Ich glaube Matilde, was sie mir bisher aus ihrer Vergangenheit anvertraut hat. Ich habe erfahren müssen, dass unsere Naturgesetze nicht unumstößlich sind ... oder jedenfalls noch sehr unvollständig. Ich meine REALE, unkontrollierbare Geschehnisse, kein Gläserrücken oder ähnlichen Firlefanz.

 

Weil die Grenzen zwischen Traum und Wachwelt fließend sind, macht es meiner Ansicht nach wenig Sinn, Erlebnisse der einen oder der anderen Ebene zuzuordnen. Die Frage ist nicht, ob man etwas mit Händen greifen oder messen kann, sondern ob es auch außerhalb der eigenen Wahrnehmung existiert. Auf Herm habe ich ... haben wir teilweise gemeinsam ... erlebt, wie die Grenzen zu zerfließen begannen. Die Schwierigkeit liegt in der Abgrenzug: Was entsprang lediglich unserem Geist und was nicht? Paul ist verschwunden ... und doch hat er die Insel nicht körperlich verlassen. Matilde ... nun sie wird es Ihnen selbst erzählt haben. Ich besuchte reale Orte, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Wir waren aus Raum und Zeit herausgerissen, bewegten uns wie Geister in einer toten leeren Welt.

 

Auf meinen Reisen habe ich auf der ganzen Welt überliefertes Wissen gesammelt. Ich habe auch dort Übereinstimmungen festgestellt, wo es aufgrund räumlicher oder zeitlicher Distanz keinen Kontakt zwischen den verschiedenen Kulturen gab. Sicher gäbe es verschiedene Erklärungsversuche hierfür, aber ich bin nicht geneigt, hierin Zufälligkeiten zu sehen.

 

Theologisch betrachtet ... bin ich Christ ... und dennoch der Ansicht, dass die Bibel im wesentlichen von Menschenhand niedergeschrieben wurde, also der Interpretation bedarf und in den eingeschränkten Verständnismöglichkeiten ihrer Schreiber seine Grenzen fand. Darum ist jeder gut beraten, auch an der Weisheit des Dalai Lama teilzuhaben. Ich habe gelernt, dass jede Kultur, ihre Mythen und ihre Religionen eine Berechtigung haben und dass man die Überlieferungen der Ureinwohner ernst nehmen sollte, wenn man auf deren Land überleben will. Denn es sind Wegweiser aus der Vergangenheit, die die Erfolgreichen aus vielen Generationen weitergegeben haben.

 

Das Böcklin Haus auf Herm habe ich aufgesucht, um meine Spuren zu verwischen. Wie ich schon sagte, ich besitze Dinge, die ... bewahrt und behütet werden müssen. Ich hoffte auf diesem kahlen Felsen im Atlantik ein Versteck zu finden, in dem ich für eine Weile ruhen könnte. Ich suchte einen Ort, an dem ich mich auf meine Aufgabe als Wächter beschränken könnte, ohne zu nahe an den Rand der Klippe zu geraten, auf der unweigerlich wandert, wer sich intensiv mit manchem 'verbotenen' Wissen beschäftigt.

 

Sie vermuten, dass ich mehr weiß als ich zugeben will oder kann. Das ist zutreffend. Hierbei werden wir es unter den gegebenen Umständen aber wohl belassen müssen. ...

 

Sie müssen mich verstehen, Hartmut: Ich weiß so gut wie nichts über Sie. Sie haben so einiges über mich in Erfahrung gebracht. Auch wenn Sie mit Ihren Fakten noch sehr an der Oberfläche, dem Offensichtlichen kratzen, genügt es Ihnen bereits, um Ihre Schlüsse hieraus zu ziehen und Vermutungen anzustellen. Sie sind mir gegenüber also bereits erheblich im Vorteil. Daher wäre es vielleicht an der Zeit, für Ausgleich zu sorgen.

 

Quid pro quo!

 

Warum sollte ich Ihnen von den Erfahrungen meines Lebens berichten? Sie weichen allen meinen Fragen aus:

 

Warum soll Matilde an diesem Gespräch nicht teilnehmen?

 

Was genau veranlasst Sie zu glauben, dass ich Ziel der heutigen Anschläge war, obwohl die Angreifer ausdrücklich Sie erwähnten?

 

Warum werden Sie verfolgt und von wem? Auch wenn die heutigen Vorfälle nichts mit Ihnen zu tun haben sollten, so räumen Sie doch ein, dass es Menschen gibt, die nach Ihnen suchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sehr schwierig ist, Sie ausfindig zu machen, wenn man es wirklich will. Das Schloss, der Sportwagen, die vielen Kontakte mit Mandanten, der ... ausgefallene ... Gegenstand vieler Ermittlungen Ihrer Detektei ... Welche Garantie halten Sie tatsächlich in den Händen, dass man nicht gegen Sie und Ihre Familie vorgeht?"

 

Ich denke an Matilde, denke an das ungeborene Kind. Ich bin kurz versucht, Hartmut mit dieser Information ein einziges mal aus der Fassung zu bringen und seine Fassade zu durchbrechen. Ich wünsche mir, die Erkenntnis in seinem Gesicht zu lesen, die Erkenntnis, dass ich allen seinen Mühen zum Trotz in meinem Wissen über ihn tiefer vorgedrungen bin, als er umgekehrt ... seine Selbstsicherheit mit dem Beweis zu erschüttern, dass Empathie eine wirksamerer Schlüssel zu Informationen sein kann als Gewalt oder das Lauschen an der Tür. Kurz überkommt mich ein Verlangen, Macht über diesen Mann zu erhalten, sei es auch nur für einen kurzen Augenblick. Aber etwas tief in mir hält mich zurück, ein Ruf aus den Tiefen meiner Vergangenheit, flüchtig wie die Erinnerung an das Rauschen des Meeres.

 

"Nein ... dieser flüchtige Moment des Triumphes wäre es nicht wert, Matildes Vertrauen zu verlieren.

 

Aber ich sehe keinen Grund, warum ich Hartmuts Neugier hinsichtlich meiner Vergangenheit befriedigen sollte. Was denkt er sich nur? Was soll sich plötzlich an unserer Beziehung geändert haben? Er hat mir nachspioniert, was zu erwarten war. Mit Paul hat er es schließlich schon genauso gemacht, wie er mir gegenüber vor Jahren andeutete. Damit kann ich leben. Aber soll dieser Umstand bei mir Vertrauen wecken? Soll ich ihm nur deshalb vertrauen, weil er angeblich meine Briefe nicht gelesen hat?

 

Ich frage mich, unter was für Menschen Hartmut wohl aufgewachsen sein mag. Wenn Hartmut eine Schwäche hat, dann ist das jedenfalls seine ... Unfähigkeit soziale Beziehungen zu 'normalen' Menschen unterhalb seines elitären Selbstverständnisses aufzubauen. Erneut frage ich mich, ob Hartmut tatsächlich so ungeschickt ist oder ob auch dieses Verhör eine neue Form der Provokation sein soll. Ob dies der Grund ist, aus dem er Matilde fortgeschickt hat?"

 

Ich beschließe, mich dem Thema 'Clive und die Schatten seiner Vergangenheit' unverändert zu verweigern und das Gespräch genau so oft auf Themen aus Hartmuts Privatsphäre zu lenken, wie Hartmut auf meine Vergangenheit zurückkommt. Hartmut hat mir nichts geboten, was eine Offenheit zu Details meiner Vergangeheit rechtfertigen würde. Solange Hartmut seine Deckung nicht fallen lässt, werde ich meine auch nicht mehr weiter senken. Ich bin ihm schon mehr entgegen gekommen, als angemessen.

 

"Gestatten Sie mir auch ein offenes Wort:

 

Ich habe Verständnis für Ihre Vorsicht. Sie haben wenig Anlass mir zu vertrauen ... mir Informationen anzuvertrauen, die Sie vermutlich noch nicht einmal Matilde gesagt haben. Aber, Hartmut, eines scheinen Sie mir trotz Ihres profunden Wissens, trotz Ihrer hohen Intelligenz und trotz Ihrer Erfahrungen noch nicht begriffen ... oder verlernt zu haben: Vertrauen kann nur Bestand haben und belastbar sein, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht!

 

Wenn Sie mich nach meiner bescheidenen Meinung fragen würden ... und ich bitte bereits jetzt um Verzeihung für die Indiskretion meinerseits ... würde ich Ihnen folgendes sagen: Sie werden Matilde auf jeden Fall verlieren, wenn Sie ihr nicht endlich vollkommen vertrauen. Es kann auf die eine oder andere Weise geschehen, aber es WIRD geschehen ... bald. Matilde wurde von ihrer Familie verstoßen, soviel ich weiss. Matilde wird kaum etwas mehr treffen, als von Ihnen ausgegrenzt zu werden. Darum würde ich Ihnen dringend raten, sich möglichst schnell zu entscheiden ... für ein einsames, elitäres Leben ... oder für das Vertrauen in andere Menschen, auch wenn diese nicht gerade über Ihre Stärken verfügen ...

 

Ich bitte Sie, mich nicht misszuverstehen. Ich erwarte nicht, dass Sie MIR vertrauen ... aber MATILDE hat es verdient. Sie ist stark genug, um Ihre Vergangenheit akzeptieren zu können, was immer es damit auf sich haben mag. Aber sie wird daran zerbrechen, wenn Sie sie weiterhin ausschließen. Matilde konnte Paul seine Schatten verzeihen. Sie konnte mich akzeptieren. Ihr Blick ist mehr auf das Wesen des Menschen als auf seine Taten gerichtet. Ich glaube, Sie unterschätzen, was Sie Matilde zumuten können. Sie ist stärker, als Sie zu glauben scheinen, wenn auch auf eine andere Art als Sie."

  • Like 2
Link to comment
Share on other sites

Stille.

Draussen hat wieder angefangen zu schneien. So wie damals in Norwegien.

Ich gehe hin und her. Alexander schaut mich an. Er ist fast eingeschlafen.

Damals war es anders.

Ich hatte mein Leben irgendwie im Griff. Ich war eine Jägerin und das hatte mir gereicht. Und auch bei Witiko hatte ich alles im Griff. Ich wäre auch mal vielleicht gestorben, aber alles war...offen. Frei. Ohne Geheimnisse. Mein Leben und Tod war in meinen Hände.

Ich dachte ich hätte in Hans jemand getroffen, dem ich vertrauen konnte.

Und nach all dieser Zeit...

Nur mehr Fragen, immer mehr.

Ich bin müde.

Frustriert.

Ich sollte spurlos verschwinden, und vpn vorne anfangen.

Ich wäre allein mit Marie.

Ich interessiere doch kein Mensch.

Ich wäre wieder frei und die ganzen Fragen würden endlich mich nicht mehr quälen.

Er weisst es.

Und schick mich trotzdem zum Teemachen.

Ich schaue Alexander an.

Er schläft.

Ich lege ihn ins Bett.

Dann gehe ich in mein Zimmer und hole John raus.

Ohne ihn bin ich nichts.

Ich schaue dann den leeren Koffer an.

Tu es einfach.

Tu es, Matilde.

Edited by Nyre
  • Like 2
Link to comment
Share on other sites

 Share

×
×
  • Create New...