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[Nightmare Bites] Gefrorene Tränen


Der Läuterer
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Anwesen der Eheleute Stratton
Mittwoch, 08.01.1930

[im Anschluss an das Telefonat zwischen Matilde und Clive]
 

Als das Taxi das Anwesen erreicht, steht das Tor weit offen.
 
Ich bezahle den Fahrer und schicke ihn fort. Einem Gefühl folgend schließe ich das Tor und schiebe die Riegel, mit denen das Tor mittig, oben und unten fixiert werden kann, vor.
 
Dann greife ich mir meine Tasche und gehe quer über den Hof zum Palas. Der Schnee der letzten Stunden ist unberührt. Alles liegt ruhig und verlassen da.
 
Als ich die Klinke drücke, schwingt die große Tür des Palas knarrend auf. Zum ersten mal setzte ich einen Fuß in Hartmuts Residenz.

 

"Sieht das nach jemandem aus, der sich verstecken will?" Dieser Verdacht, dass Hartmut nie wirklich mit der Organisation gebrochen hat und Matilde über Jahre hinweg lediglich ein großes Schauspiel geboten wurde, will nicht ruhen.

 

"Hattest Du Spaß dabei, Hartmut? Haben Matildes Versuche, einen Weg durch den Neben zu finden, den Du heraufbeschworen hast, Dich erheitert? Mögest Du in der Hölle schmoren!"

 

Dem Gebäude haftet die Düsternis und Kälte vieler Jahrhunderte an. Mich schaudert. "Wahrlich, dieses Gemäuer passt zu Dir Hartmut: Es ist alt, durchdrungen von längst vergessenen Schrecken, nicht zu erweichen und  ... vor allem kalt ... wie Du, Hartmut! Welche Bühne hätte besser zu Dir passen können? Du musst Dich hier wirklich wohl gefühlt haben!"

 

Langsam suche ich meinen Weg durch die menschenleeren Räume. "Hast Du alles hinfort geschafft, Hartmut? Oder ruht hier noch geheimes Wissen? Liegen hier noch Antworten auf Matildes Fragen verborgen? In den geheimen Zimmern oder in tiefen Verliesen?"

 

Nichts deutet darauf hin, dass vor mir schon jemand anderes hier gewesen wäre. Keine Spuren einer Durchsuchung, keine Hinweise auf einen Kampf. Alles scheint so zu sein, wie an einem normalen Tag. Nur die Menschen fehlen.

 

Als ich eine Treppe ins obere Geschoss entdecke, rufe ich vorsichtig Matildes Namen. Kurz darauf höre ich Luni leise winseln und seine Krallen an einer Tür. Ich fasse den Griff meiner Tasche fester und folge den Geräuschen entschlossen hinauf in das obere Geschoss.

 

Hinter der Tür zum Schlafzimmer begrüßt mich Luni freudig, aber auch die Instinkte des Tieres scheinen erkannt zu haben, dass hier etwas vor sich geht. Der Wolf wirkt verunsichert. Ein heruntergebranntes Feuer glimmt noch leicht im Kamin. Die Luft ist schwer und verbraucht. Der Duft von Alkohol hängt im Raum.

 

Die Fensterläden sind geschlossen und das Tageslicht erhellt den Raum nur spärlich durch Risse im Holz und den schmalen Spalt zwischen den Länden und der Steinmauer. Meine Augen brauchen eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

 

Das Bett ist zerwühlt, aber leer.

 

Auf einem kleinen Tisch in der Nähe des Kamins erkenne ich mehrere Gläser und zwei Flaschen Whisky, eine liegend und leer, die andere steht geöffnet daneben. Daneben liegt Mathildes Luger.

 

Nahe dem Tisch stehen im Schatten zwei Sessel. Vor einem der Sessel liegt eine Gestalt in den Schatten. Sie ist fast vollständig von dem Sessel auf den Boden herabgeglitten. Zum ersten mal erfasst mich die Angst, Matilde könnte tatsächlich nicht auf mich gewartet haben.

 

"Matilde!", rufe ich aus und laufe zu ihr. Als ihre Gestalt in den Schatten erkennbar wird, werfe ich meine Tasche auf den zweiten Sessel und schließe sie in die Arme.

 

"Gott sei Dank! ... Einen Augenblick dachte ich schon, Du hättest mich alleine gelassen."

 

Als Sie mich anblickt, streiche ich ihr über die feuchten Wangen. Ich sehe den Schmerz in ihren Augen. Ich spüre den Stich in meinem Herzen und die Wut auf Hartmut in meiner Brust. Ich möchte Matilde sagen, was ich über Hartmut denke, dass er sie nie verdient hat, dass er sie nur benutzt hat. Ich will meinen Verdacht herausbrüllen und Matilde wachrütteln, aber ich weiß, dass ich sie jetzt trauern lassen muss. Wenn sie wieder stärker ist, wenn sie selbst zu begreifen beginnt, dann wird die Stunde kommen ... "Und wenn mein Verdacht sich erhärten sollte, Hartmut, dann wird Dich keine Organisation, kein Versteck und kein Zauber vor Matilde retten! Dafür werde ich sorgen. Dann werde ich jeden Fluch auf Dich herabrufen, zu dem ich im Stande bin! Dann wirst Du bezahlen."

 

"Aber nicht jetzt ... nein, jetzt gilt es erst die Scherben zusammenzufügen, die Du zurückgelassen hast, Du Mistkerl!"

 

Bevor ich mit Matilde rede, muss ich ruhiger werden und den Zorn verdrängen. Meine Wahrnehmung gilt jetzt nur ihr. Ich rieche ihren Duft, ich spüre ihre Wärme. Ich genieße ihre Nähe. Es ist wie dieser Moment gestern, als ich Matilde aus dem zerstörten Taxi geborgen habe. Ich wünschte, ich müsste sie nie loslassen. Und doch fühle ich mich dafür schuldig: Während Matilde an meiner Schulter weint, kann ich ihre Verzweiflung über den Verlust von Alexander teilen ... doch gleichzeitig erfüllt mich diese Nähe mit Glück.

 

Und da ist noch etwas ... etwas merkwürdiges, neues ... als könnte ich das Kind in ihr spüren. "Unzweifelhaft eine meiner Phantasie entsprungene Einbildung ... oder doch mehr als das?"

 

Lange knien wir so vor dem Sessel ohne zu reden.

 

Dann beginnt Matilde, mir von dem Gespräch mit Hartmut zu berichten. Sie spricht von Alexander, wie sie ihn vermissen wird und dass er nun in Sicherheit sei. Sie spricht davon, dass mit Alexander all ihre Hoffnungen auf ein normales Leben gegangen seien. Sie spricht von ihren bisherigen Leiden, deren Grund sie nie begreifen wird. Die Ängste, in einem Sanatorium zu enden, hilflos und schwach.

 

Ich lasse sie sich alles von der Seele reden. Vieles ist für mich neu.

 

Nach einer Weile kommt Luni dazu und legt seinen Kopf in Matildes Schoß. Automatisch beginnt sie, das treue Tier zu streicheln.

 

"Was könnte ich sagen, um Dir zu helfen, mein Liebes? ... Ich kann all dies nicht ungeschehen machen. Und ich kann Hartmut und Alexander nicht ersetzen.

 

Und doch möchte ich Dich bitten, meinen Rat zu anzuhören. Gerade weil ich selbst in meinem Leben oft den Wunsch hatte, den letzten Schritt zu tun. Und doch habe ich es bisher nicht getan. Wenn Du keinen anderen Ausweg siehst, wenn das Leben für Dich nur noch Schrecken beinhaltet, dann werde ich Deinen Wünschen entsprechend handeln und Dir beistehen.

 

Aber wenn da auch nur ein Funken Hoffnung ist, bitte ich Dich, bei mir zu bleiben ..."

 

Ich hebe sanft ihr Gesicht und blicke ihr in die Augen, als ich gestehe:

 

"... weil ich Dich brauche ... weil Du in mir heilen könntest, was seit vielen Jahrzehnten zerbrochen ist ...

 

Herm sollte für mich eine Zuflucht sein. Ich wollte dort meinen Seelenfrieden finden ... und ich habe Dich gefunden. Seither lässt mich die Vorstellung nicht los, dass das Schicksal uns beide dort nicht ohne Grund zusammengeführt hat."

 

Ich blicke Matilde verlegen an, weil die Worte abgedroschen klingen. Und doch ist es die Wahrheit.

 

"Für das, was uns dort widerfahren ist, muss es einen Grund geben, ... mehr noch dafür, dass wir es überlebt haben.

 

Wenn Du jetzt von mir gehst, dann wärst Du nur ein weiterer Mensch, der meinen Weg kreuzt und in den Strudeln meines Fahrwassers ertrinkt. Dann würden auch meine auf Herm gewonnenen Hoffnungen sich als Trugbilder erweisen. Aber ich spüre so sicher, dass Du weit mehr für mich bist. Da ist ... war ... etwas in mir, dass auf Dich von Anfang an reagiert hat. Ein Gefühl ... nein, mehr als ein Gefühl ... dass mich seit meiner Jugend begleitet hat und das Deine Nähe ... verändert.

 

Es gibt keinen anderen Menschen, dem ich so bedingungslos vertrauen würde, wie Dir. Und es gäbe noch so vieles, was ich Dir erzählen möchte.

 

Als ich vor zwei Jahren hierher gekommen bin, hoffte ich, in Dir jemanden gefunden zu haben, mit dem ich all mein geheimes Wissen teilen könnte ... mehr als einen Schüler wie Cainnech ... ich hoffte in Dir eine Vertraute, eine Seelenverwandte, ... eine Tochter ... gefunden zu haben, in deren Hände ich eines Tages beruhigt meine Aufgaben legen könnte.

 

Darum bitte ich Dich als Dein Freund ... als Dein Vater, wenn Du mich lässt ... bei mir zu bleiben, wenn da auch nur ein kleiner Zweifel in Dir verblieben ist, ob es nur einen Ausweg gibt. Lass es uns erproben ... Stunde um Stunde ... Tag um Tag.

 

Die Organisation hat vermutlich noch keine Ahnung, dass Hartmut mit Alexander geflohen ist. Und selbst wenn, wissen sie nicht, dass Du keine Ahnung hast wohin. Lass uns für Alexander die Fassade aufrecht erhalten, als sei nichts geschehen. Du arbeitest weiter für die Detektei. Ich bleibe als Dein alter Freund zu Besuch. So gewinnen Alexander und Hartmut einen Vorsprung. Und wenn diese Bastarde von der Organisation sich Dir nähern, werden wir sie gemeinsam bekämpfen. Du wirst die Dinge nicht mehr Hartmut überlassen, sondern wir werden selbst versuchen, Antworten auf Deine Fragen zu finden.

 

Wir beide haben immer wieder Situationen überlebt, die ausweglos schienen ... die eigentlich ausweglos waren. Wenn wir auch sonst nicht viel in den Händen halten, so glaube ich doch daran, dass es nicht unser Schicksal ist, einfach zu sterben. Ich glaube nicht, dass unser Weg hier schon endet.

 

Und vielleicht, wenn wir beide viel Glück haben, können wir in ein paar Wochen oder Monaten nach Irland fahren, bevor irgendjemand etwas von Deinem Kind weiß. Du könntest es bei mir zur Welt bringen. Als Arzt kann ich das Datum der Geburtsurkunde festlegen. Niemand wird dieses Kind zu Gesicht bekommen, niemand wird es noch mit Hartmut in Verbindung bringen. Wir werden jemand anderem die Vaterschaft zuschreiben, so wie Du es dann für richtig hältst.

 

Aber für Dich wird es Alexanders Bruder oder Schwester sein. Eine Verbindung. Und vielleicht ... eines Tages ...

 

Ich glaube an dieses Kind. ... Und es wäre mir wirklich willkommen. ... Mehr als willkommen. ... Könntest Du Dir mich auf der Gartenbank in der Sonne sitzend mit Deinem Kind auf dem Schoß vorstellen? ... Ich ... war immer alleine ... weil ich niemanden in Gefahr bringen wollte. Aber Du und dieses Kind, Ihr könnt durch mich nichts mehr verlieren. Ihr seid meine einzige Aussicht ... nicht mehr einsam zu sein."

 

Ich blicke zu Boden, traue mich nicht länger, in Matildes Augen zu blicken. Jetzt, da es ausgesprochen ist, wird mir bewusst, wie sehr ich mich an diese letzte große Hoffnung meines späten Lebens klammere. Ich weiß, es ist nicht gerecht, Matilde hiermit zu belasten. Aber ich weiß auch, dass ich Matilde nicht gehen lassen kann, ohne es ausgesprochen zu haben.

 

Und nun knie ich vor Matilde, wie ein Dissident, der auf sein Urteil wartet.

Edited by Joran
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Ich seufze, und bleibe noch eine Weile still, nachdem Clive zu mir gesprochen hat.

 

Wie kann ich ihm sagen, dass jeder Versuch, weiterzumachen, würde einfach mich noch wahnsinniger machen?

 

Wie kann ich einfach so aufgeben, jetzt dass ich noch eine letze Verantwortung habe?

 

Marie...

 

Mir ist übel und ich habe Kopfwehen.

 

"Deine..Idee..einfach weiterzumachen, um ..ihm und Alexander noch einen Vorsprung zu geben, ist nicht schlecht, wirklich".

 

Ich schaue ihn an.

 

"Ich würde ...gerne Irland sehen. Aber dir musst klar sein, dass du keine Frau mit dir mitnimmst, sondern eine tickende Bombe".

 

Dann schweige ich wieder.

 

"Das ganze hier, ist mir so was von egal...verstehst du? Es ist, als hätte ich mich fünf Jahre lange für etwas vorbereitet, dass nie kommen wird. Ich habe versagt. Ich werde nicht nur keine Antworten haben, sondern, und viel wichtiger, keine Rache. Das hat Hans noch weniger beachtet, als den Rest." sage ich müde.

 

"Ich fühle mich nicht gut, Clive. Ich glaube, gestern habe ich zu viel getrunken.." Ich versuche aufzustehen. Was mir nicht wirklich gelingt.

 

Ich bin eine Versagerin.

 

"Darf Luni mitkommen? Nach Irland, meine ich.." frage ich unsicher. Als wäre ich wieder ein kleines Kind, dass um Erlaubnis bitten muss.

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"Eine tickende Bombe? Was macht das schon? Sind wir das nicht alle?"

 

"Wie könnte ich Luni zurücklassen? Es wird ihm dort gefallen: weite Wiesen, grüne Wälder, wilde Bäche.

 

Es wird Euch gut tun, eine Weile dieser kranken Stadt zu entfliehen."

 

Dankbar greife ich nach ihrer Hand.

 

"Du bist mehr, als ich mir von irgendeiner Frau erhoffen könnte. Wer außer Dir könnte mich schon verstehen? Wer würde mir glauben, wenn nicht Du?

 

Du konntest Hartmut nicht zwingen, sein Schweigen zu brechen. Du warst so tapfer, so viele Jahre. Ich bin sehr stolz auf Dich. Du hast Alexander das Leben geschenkt. Und Du warst stark genug, ihn gehen zu lassen, um ihn zu schützen. Er wird Deine Entscheidung verstehen, wenn er alt genug ist. Und es wird jemanden geben, der ihm künftig von Dir erzählen kann.

 

Wir beiden werden jetzt aufeinander Acht geben!"

 

"Eine Pforte öffnet sich. Wieder!" Vor meinem inneren Auge ziehen sie vorbei, die Augenblicke, die mein Leben geprägt haben; die Momente, in denen in der tiefsten Dunkelheit ein Funke zu einem Licht heranwächst, in denen inmitten des Unglücks ein Keim sprießt und Hoffnung verspricht: "IHR Blick und IHRE Stimme als im Urwald der Tod mit seinem wilden Tanz die Menschen in den Irrsinn trieb ... die Leben verheißenden Schnitzereien auf der Truhe im Kongo ... Cainnechs Vater im Lazarett in Flandern ... Matildes Zutrauen auf Herm, als Raum und Zeit in Scherben lagen. All diese losen Fäden scheinen in diesem Moment zusammenführen und ein wundersames Muster zu bilden. Das bildliche Versprechen der Geburt auf der Truhe scheint nun wahr zu werden ... Welches Schicksal auch immer Alexander zugedacht sein mag, ich glaube, dass dieses ungeborene Kind MIR begegnen sollte. Ich glaube, dass dieses Kind zu schützen meine letzte und wichtigste Aufgabe sein wird."

 

"Danke!", flüstere ich dieser fernen Seele zu, die irgendwo jenseits eines vergessenen Meeres hinter einem hohen Deich auf mich wartet. "DANKE!"

 

"Matilde, meine Liebe, ich habe aufgehört zu glauben, dass es im Leben darum geht Antworten zu suchen. Es ist der Augenblick der zählt ... nur der Augenblick und was wir daraus machen. Manchmal meint man eine Antwort auf eine der kleineren Fragen zu finden. Und manchmal schenkt uns das Leben eine Antwort auf eine der wirklich wichtigen Fragen, wenn wir schon nicht mehr damit rechnen. Manchmal braucht es sehr lange, bis die Antwort zu uns kommt. DU bist die Antwort auf eine meiner Frage, die ich mir vor drei Jahrzehnten im dunkelsten Augenblick meines Lebens tief im wilden Afrika gestellt habe. DU bist die Einlösung eines Versprechens, das ich damals erhalten und nicht verstanden habe. Die wichtigen Antworten kommen zu uns, wenn die Zeit reif ist. Davor ist all unser Suchen nur ein Stochern im Dunkeln.

 

Ich werde Dir von meinen Reisen berichten ... und von den Geheimnissen auf die ich gestoßen bin. Ich werde Dir das alles erzählen ... wir werden viel Zeit haben, um zu reden. Und ich werde Dir Dinge zeigen, die ich noch niemandem vor Dir gezeigt habe. Ich werde Dir den Tabernakel zeigen, das stählerne Zelt, SEINEN Tempel. Ich werde Dich lehren, IHN um Beistand zu bitten ... für Deine Kinder.

 

Eines Tages wirst Du vielleicht erkennen: heute ist nicht das Ende, heute ist ein Anfang ... Und ich will alles in meiner Macht stehende tun, damit es der Anfang von etwas Gutem für Dich ist."

Edited by Joran
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Ich verstehe nicht wirklich alles, was er mir sagen will...sachen erzählen..Dingen zeigen?

Doch jetzt ist das einzige, was es zählt, ihn zu haben. Ein guter Freund, vielleicht wirklich ein Vater?

Ich umarme ihn fest.

"Danke, Clive" murmele ich.

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Ich erwidere die Umarmung. Über meinen Erfolg bin ich selbst überrascht. Im Sommer vor zwei Jahren hatte ich alle Hoffnungen aufgegeben. Und jetzt diese Wendung. Es ist mir egal, ob es ein Moment der Schwäche ist, der mir diesen Erfolg beschert. In diesem Augenblick will ich nur in die Zukunft blicken. Es fühlt sich zwar ungewohnt an, Pläne für eine gemeinsame Zukunft zu schmieden, aber es fühlt sich gut an, zu gut, um es in Frage zu stellen.

 

"Matilde darf jetzt nicht alleine bleiben. Ist die Gefahr schon endgültig überwunden?"

 

Kurz überlege ich, Matilde ein Beruhigungsmittel zu geben, damit sie schlafen kann. Aber ein Blick auf den Whisky lässt mich diesen Gedanken verwerfen. Ich beschließe, zunächst das Thema zu wechseln.

 

Als Matilde sich aus der Umarmung löst, betrachte ich stirnrunzelnd die Platzwunde auf ihrer Stirn.

 

"Das sollte ich mir wohl etwas genauer ansehen!"

 

Ich sorge für Licht im Zimmer und versorge in aller Ruhe die Wunde, so gut es jetzt - einen Tag nach dem Vorfall - noch geht. Matilde lässt alles geduldig über sich ergehen. Der Schmerz scheint sie kaum zu erreichen. Den Hinweis, das nun wohl eine weitere Narbe verbleibt, verschlucke ich.

 

"Möchtest Du hier bleiben? Soll ich mir von Cainnech ein paar Dinge bringen lassen, damit Du nicht alleine bist?", frage ich unsicher.

 

Die Vorstellung, einen Tag nach der Trennung in Hartmuts Haus einzuziehen, bereitet mir Unbehagen. Es müsste auf Hartmut wirken, als wollte ich mich ins gemachte Nest setzen. Vermutlich entgeht Matilde mein Widerstreben nicht.

 

"Andererseits soll die Organisation nicht merken, dass Hartmut fort ist. Matildes Auszug sollte also ... plausibel ... erscheinen.

 

Ein Doppelzimmer auf Mr. und Mrs. Stratton nebst Beistellbett für das Kind in der Pension? Von Anfang an hatte Hartmut etwas gegen die Pension. Warum? Würden DIE uns einen Umzug in die Pension abkaufen? Warum sollte Hartmut seine Burg verlassen? Und die einfache Pension entspräche auch kaum seinem Stil!

 

Hartmut hatte das Savoy vorgeschlagen. Das sieht eher nach ihm aus.

 

Was würden die von der Organisation Hartmut abnehmen? Vielleicht eine Geburtstagsfeier für Matilde in einem exklusiven Hotel nahe London? Mit den Freunden der Familie ... Welche Freunde hatten Hartmut und Matilde? Vielleicht dieser Ove, den Matilde erwähnt hat. Er hat einige Fälle gemeinsam mit ihr bearbeitet. Das wäre wohl glaubhaft. Wie sieht es mit Hartmuts Partner aus, diesem Kilmister? Gibt es ihn überhaupt? Wir könnten uns zusammenrotten. Aber will das Matilde überhaupt?"

 

"Oder möchtest Du lieber fort hier? Sollen wir gemeinsam in ein Hotel ziehen, wie wir es gestern überlegt haben?", setze ich nach, bevor Matilde antworten kann.

 

"Warum glaubte Hartmut, dieser 'Mönch' sei wegen mir gekommen? Harmuts Wahrnehmung schien im Restaurant getrübt. Ist er einfach irgendeinem Trugbild aufgesessen? Oder wusste Hartmut in Wahrheit mehr, als er verraten hat? Waren die Anspielungen auf Flandern nur Ablenkungsmanöver?

 

Jetzt da Hartmut geht, kann ich meine Emotionen ihn betreffend beiseiteschieben ... oder ist das auch so eine Veränderung, die mit der Änderungschneiderei zusammenhängt? 'ÄNDERUNGSSCHNEIDEREI' ... welche Bedeutung nun in diesem Wort liegt", fährt es mir durch den Sinn. "Sollte ich versuchen, Hartmut im Büro zu erreichen? Sollte ich ihm sagen, dass ich mich um Matilde kümmere? Würde ihn das beruhigen oder verärgern? Würde er mir sagen, was ich für Matildes Schutz wissen sollte? ... Nein, wenn er es Matilde nicht gesagt hat, würde er es mir erst recht nicht anvertrauen. Und Matilde würde es mir vermutlich nicht danken.

 

Welche Trümpfe haben wir in der Hand?

 

Unsere Angreifer ... jedenfalls eine Seite ... wusste mit mir nichts anzufangen. 'Sie müssen andere Qualitäten haben, Herr Spezialist.'

 

Und sie wissen vermutlich noch nichts von Cainnech. Das sollten wir vermutlich so belassen. Cainnech könnte den 'Hartmut' geben. Es besteht keine Ähnlichkeit, aber solange Cainnech auf dem Zimmer bleibt und sich nicht zeigt ... Und wenn wir dann noch ein paar Gegenstände von Hartmut im Zimmer verteilen, ein wenig Wäsche mit seinem Monogramm oder ähnliches ... ? Das könnte uns vielleicht ein wenig Zeit verschaffen. Uns und Alexander."

 

Ich denke an den kleinen Jungen, an seine Augen, an die Vertrautheit, die ich zwischen uns zu spüren glaubte. "Zeit für Alexander, ja, das erscheint mir richtig. Für ein paar Tage weitermachen, als seien Hartmut und der Junge noch hier...

 

Aber wie soll es dann weitergehen? Was ist das Ziel? Diesen Mistkerlen einen Falle stellen? Hätten wir überhaupt eine Chance oder käme das einem Selbstmordkomando gleich?"

 

Ich lehne mich zurück und sehe Matildes fragenden Blick.

 

"Was wünschst Du Dir, Matilde?

 

Vergeltung, solange diese Mistkerle hier sind ... oder ein paar Tage die Stellung halten - für Alexander - und dann in Irland abtauchen?"

 

Ich teile Matilde meine Überlegungen mit ... mit Ausnahme eines Anrufs bei Hartmut.

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Ich schaue ihn an, ernst.

"Ich weiss es nicht. Hier bleiben würde ich ungerne..ich hatte gedacht, alles auf den Kopf zu stellen, aber ich glaube nicht, dass Hartmut hier etwas wichtiger gelassen hatte. Aber vielleicht können wir, bevor wir zu der Pension fahren, schnell im Keller gucken. Nur um sicher zu sein"

 

Ich stehe auf, und fange an zu packen. Ich merke, dass ich zittere.

Ich packe praktische Kleidungen an, sowie ein paar Eleganten Kleider, John, meine Toilettenaccessoirs, die Maske, und zuletz Alexanders Schlafmütze.

Ich streichele sie ein wenig, dann mache ich den Koffer zu.

 

Ich schaue wieder Clive an.

 

"Mir ist nicht besonders wohl. Es war eine fürhtbare Nacht. Ich habe geträumt, ich hätte die Maske, du weiss schon, die Totenmaske. Es war schreklich. Ich war schreklich"

 

Ich halte mir selbst die Hände, um mich zu beruhigen.

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Ich wäre der Letzte, der sagen würde: Das war doch nur ein Traum! Spätestens seit dem Böcklin-Haus weiß ich, dass es Träume der einen und der anderen Art gibt.

 

"Du musst mir später genau berichten, was im Auktionshaus vorgefallen ist. Bisher hatten wir dazu noch keine Gelegenheit", sage ich nach kurzem Zögern.

 

"Aber zuerst sollten wir dieses Kapitel hier schließen, denke ich. Ich folge Dir. Meinst Du, es gibt hier außer dem Keller noch verborgene Räume, von denen nur Hartmut Kenntnis hat? Hartmut hat Dich doch ... in bestimmten Dingen unterwiesen, oder? Hat er dafür Schriften benutzt, die Du sicherstellen solltest?"

 

Ich greife Matildes Koffer mit der einen Hand und meine Arzttasche mit der anderen. Dann bleibe ich noch einmal stehen.

 

"Soll ich ein paar Gegenstände mitnehmen, die auf Hartmuts Anwesenheit hindeuten könnten? Wollen wir überhaupt dieses Täuschungsmanöver versuchen?

 

Was ist mit diesem Ove Eklund? Vertraust Du ihm? Kann man sich auf ihn verlassen? ... Ich meine, wird er auch zu drastischen Schritten bereit sein, wenn es nötig werden sollte?"

Edited by Joran
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Ich seufze.

"Nein ich will nur sichergehen, dass da kein Mensch festgehalten wird." sage dann emotionslos.

"Nicht, dass ich es erwarte. Aber wer weisst"

"Hartmuts Sachen nehmen, von mir aus, aber ich wüsste nicht was. SO werden wir die nicht täuschen. Und wenn man Hartmut glaubt sind sie eher nicht hinter uns her."

 

Ich laufe ins Keller.

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Der Keller.

Der Kerker.

Die Katakomben.

 

Das Gewölbe ist alt. Mittelalter? Das dunkle Zeitalter.

Oder aus der Renaissance? Das Zeitalter der Hexenverbrennungen.

 

Die Stufen der Treppen und die Trittsteinen zu Euren Füssen sind ausgetreten und glatt. Die Wände aus Natursteinen und Mörtel kantig und rau. Türen aus massiver Eiche. Mit rostigen Eisenbeschlägen.

 

Die Luft ist kühl und angenehm. Vielleicht 12 Grad. Es riecht abgestanden und muffig, alt und verbraucht. Ein paar verlassene Spinnweben hängen von der Decke.

 

Der Schein Eurer Lampen verschwindet in der Dunkelheit und findet sich an Wänen und Säulen wider. Der abgestellte Kram wirft lange Schatten.

 

Die Gänge und Räume sind verstaubt, verschmutzt und mit alten Krempel zugemüllt. Möbel, Kisten, Koffer. Lange unberührt. Jahrzehnte alt. Vielleicht Jahrhunderte? Weggeräumt. Abgestellt und vergessen.

 

Nur das Geräusch Eurer Schritte hallt von den Wänden wider.

Kein langjähriger Gefangener, der verzweifelt wie wahnsinnig mit seiner Blechtasse gegen die Gitterstäbe seiner Zelle schlägt. Nichts.

Kein Gerippe und kein Leichnam, der in Ketten von der Decke baumelt. Keine Berg bleicher Knochen, die sich vor Euch auftürmen und deren Schädel Euch angrinsen. Nichts.

 

Keine verschlossene Türen.

Keine zugemauerten Öffnungen.

Keine verborgenen Räume.

Keine geheimen Gänge.

Keine altertümliche Bibliothek.

Keine monströse Folterkammer.

Kein mysteriöses Versuchslabor.

 

Nur altes Gerümpel und ein gut sortiertes Weinregal.

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Bedauernd werfe ich einen Blick auf das Weinregal. Nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit einem guten Tropfen für später einzudecken, bevor dies alles hier verkommt.

 

"Ich denke, Hartmut hat hier nichts von Wert hinterlassen ... jedenfalls keine Informationen."

 

"Fragt sich nur, wann er das Schloss gesäubert hat? In der Nacht, als Matilde schlief? Oder wusste er schon länger, dass er diesen Ort verlassen würde ... bevor Matilde ihn fortgeschickt hat? Vermutlich hat er nie wichtige Unterlagen hier gelagert, schließlich sollte Matilde sie nicht erhalten", meldet sich mein Misstrauen gegen Hartmut zurück.

 

"Wir fahren jetzt zuerst einmal in die Pension. ... Falls Du noch etwas vergessen haben solltest, kann ich später Cainnech schicken, um es zu holen."

 

Ich beobachte Matilde, suche nach Anzeichen dafür, ob ihr die Trennung von diesem Ort schwer fällt. Dann wende ich mich zurück zur Kellertreppe. Oben höre ich Luni ungeduldig am Treppenabsatz warten.

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Ich gehe zum Weinregal, und nehme einer meinen Lieblingsweine.

Ich beobachte ihn ein wenig, dann lasse ich ihn auf den Boden fallen.

Die Flasche geht kaputt.

Dann drehe ich mich auch um, und gehe wortlos raus.

 

"Wenn ich das Anwesen nicht bräuchte, würde ich es jetzt abfackeln"

Ich seufze.

"Aber ich will ja kein Geld von Hartmut, daher, werde ich es verkaufen, demnächst..irgendwann.." murmele ich, und gehe hinter Clive her.

"fahren wir zu der Pension. Ist ok"

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"Vielleicht kann Mr. Kilmister den Verkauf für die organisieren? Dann müsstest Du Dich damit nicht mehr belasten."

 

"Alle Brücken hinter sich abreißen. Wie oft habe ich das schon getan. Da ist nichts, wohin man zurückkehren könnte. Da ist nichts, was einen bindet. Für eine gewisse Zeit schmerzt die Erinnerung, aber es schafft Raum für ein neues Leben ... in Irland ... bei mir."

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Clive's Pension
Mittwoch, 08.01.1930

 

Nachdem wir in der Pension angelangt sind, begebe ich mich direkt zum Empfang, um für Matilde das zwischen Cainnechs und meinem Zimmer gelegene Doppelzimmer zu buchen. Wir belegen damit die letzten drei Zimmer des Flurs. Die die Pensionsinhaberin Ellie Loock setzt wieder diese Mischung aus einem anzüglichen und einem missbilligenden Blick auf. Als ich für Matilde in das Gästebuch Mr. Hugh und Mrs. Matilde Stratton eintrage, nimmt das Gesicht der Zimmerwirtin einen fragenden Ausdruck an.

 

"Mr. Hugh Stratton wird nachkommen, sobald es seine Zeit erlaubt. Wir haben uns gestern hier zum Essen getroffen. Im Augenblick ist er ... sehr beschäftigt ..."

 

Die Mine der Witwe hellt sich auf. "Hat sie den gutaussehenden blonden Mann gesehen, der gestern mit mir und Matilde im Restaurant gesessen hat? Wieviel hat sie von den gestrigen Vorfällen mitbekommen? Unsere hektische Flucht? Alexander? Mein derangiertes Aussehen bei der spätern Rückkehr, nass, durchgefrohren und ohne Mantel? ... Warum wollte Hartmut auf keinen Fall, dass Matilde mit in diese Pension kommt? Wusste er, dass hier eine Gefahr auf mich wartet? Eine Gefahr, an der er nicht unbeteiligt war? Kennt Mrs. Loock Hartmut bereits? ..."

 

Als Ellie Loock den Schlüssel herüberschiebt, nicke ich nur kurz und freundlich, bevor ich mich abwende. Noch einmal schweift mein Blick über die Straße vor dem Fenster. Keine auffälligen Personen in Sicht, kein Mönch mit schimmerndem Glanz.

 

Ich führe Matilde die Treppe hinauf und in den Flur, an dem unsere Zimmer liegen. Als wir an Cainnechs Tür vorübergehen, weise ich Matilde darauf hin: "Das hier ist Cainnechs Zimmer. Der nächste Raum ist Deiner und die letzte Tür ist meine.

 

"Ich weiß, es ist nicht das Ritz", meine ich etwas verlegen. "Aber ich brauche nicht viel. Die Pension ist sauber und warm. Ich hoffe, Du wirst hier für ein paar Tage zurecht kommen?" Ich öffne für Matilde die Tür und lasse ihr den Vortritt.

 

Im Zimmer befinden sich ein Doppelbett mit kleinen Nachttischen beiderseits, ein Schrank, eine Frisierkommode, ein kleiner Schreibtisch und in einer Niesche neben dem kleine Bad eine Sitzgruppe mit Couch und mehreren Stühlen. Alles bis hin zur Deckenlampe ist im Art nouveau gehalten. Ich selbst bin überrascht, wenn ich die Ausstattung mit meinem kargen, weißen Zimmer vergleiche. Alles ist sehr leicht und verspielt. "Zu beschwingt für diesen Augenblick?", überlege ich. Aber dann beschließe ich, dass der Kontrast zu Hartmuts mittelalterlichen Anwesen Matilde nur gut tun kann.

 

"Ja, ich denke, dass sollte gehen, oder?"

 

Nachdem ich Matildes Koffer abgesetzt habe, berühre ich noch einmal flüchtig ihre Hand.

 

"Ich hole Dich in einer halben Stunde ab. Dann essen wir etwas. Auch wenn Du keinen Appetit hast, brauchst Du etwas im Magen. Und ich stelle Dir Cainnech vor. Er ist ... ein aufrechter Kerl. Ich vertraue ihm."

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