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[Bühne in Weiß] Kapitel 1: "Die Offenbarungen für Jean-Louis" (NP)


Blackdiablo
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'Unglücklicher, geheimnisvoller Mann, der du, in deine eigenen Phantasien verstrickt, hinstürztest in den Flammen deiner eigenen Jugend!'

 

- Edgar Allan Poe: "Das Stelldichein"

 

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Arkham, Massachusetts, Vereinigte Staaten von Amerika

31.10.1928

 

Regen. Schläfrig machender Regen. Neugier. Belebende Neugier. Die Lichter der Stadt, diese schläfrige Stadt, sie beenden ihre Totenwacht. Du beobachtest sie ausknippsen. Bist nun einsam auf der Spur der Wahrheit.

 

Dein Weg führt dich durch die gesamte Stadt. Johnson scheint sich selber kaum sicher zu sein, wo er hin möchte. Er nimmt die verwinkeltsten Straßen, die abgelegensten Ecken. Will er dich abschütteln? Nicht zu vermuten. Dazu wirkte er nicht rational genug, als er dich im Toilettenraum traf. Was hat er nochmal gestammelt? Sperling ... es war irgendetwas mit einem Sperling. Und dieser Name Jackson. Benjamin Robi Jackson. Was ist Besonderes an dem? Ein Name aus Johnsons dunkler Vergangenheit?

 

"Wir sind da.", krächzt der Taxifahrer.

Du schaust dich um und siehst, dass Johnsons Taxi noch ein gutes Stück weiterfährt. "Fahren Sie dem Taxi das letzte Stück hinter- ..."

"Neee. Bis hierhin und nich weiter. 's is Halloween, Sir. Da fahr ich nicht bei Nacht an Halloween lang. Die Baker Street meine ich." Du hast nie von der gehört. "Jetzt geben Sie mir mein Geld und bestellen Sie sich später an der Telefonzelle da ein anderes Taxi. Hier hol ich bestimmt niemals keinen ab!"

Da sich die Scheinwerfer von Johnsons Taxi immer weiter entfernen, beschließt du, dir die Diskussionen zu sparen und gibst dem Kerl sein Geld. Dann springst du aus dem Wagen und hechtest so schnell du kannst dem anderen Wagen hinterher, der glücklicherweise keine 100 Meter weiter zum Stehen kommt. Ein Blitz durchzuckt den Himmel und lässt dich eine Sekunde lang die Silhouette eines Mannes erkennen, der das Taxi verlässt und geradewegs auf die riesige Grasfläche sprintet, die die gesamte rechte Straßeseite dominiert. Die Herrenhäuser auf der Straßenseite links von dir scheinen allesamt verlassen worden zu sein. Fenster sind eingeworfen und vernagelt, Türen mit Vorhängeschlössern versehen. Schöne Gegend zum Wohnen.

 

Deine eigene Kleidung ist durch den strömenden Regen bereits komplett durchnässt. Ich sammel schonmal ein paar Erreger für später, überlegst du und schmunzelst. Du strengst deine Augen an und siehst, dass Johnson immer weiter in das Grasfeld läuft. Das Gras reicht ihm bis zu den Hüften und mit den Armen bahnt er sich eine deutlich zu erkennende Schneise durch das grüne Meer. Noch immer krachen Donner und Blitze über dich herein, doch du bleibst ausdauernd.

 

Derweil beobachtet der Mond das Schauspiel und wirft einen kränklich höhnisches Weiß auf Jäger und Gejagten.

Edited by Blackdiablo
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Vor mir der flüchtende Mann...

schemenhaft;

Blanke Angst treibt ihn voran...

traumgleich;

Fallender Regen...

löscht alle Spuren aus.

 

Habe in meiner übersteigerten Hast aus dem Waschraum mein Cape und meinen Hut im Speisezimmer liegen lassen.

Kein Verlust.

 

WO WILL DIESER KERL NUR HIN?

Meine Rufe nach Johnson verhallen wie ein Flüstern im Wind.

 

Der Regen prasselt unablässig herab.

Dicke Tropfen platschen in das Meer aus Pfützen.

Und der Regen durchdringt meine Kleidung.

 

Robert Johnson, dieser durchgedrehte Narr, will mich ertränken!

 

Der Boden ist aufgeweicht.

Morastig.

Schlammig.

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Das hohe Gras wiegt sich im Herbstwind.

 

Jede Böe peitscht das Gras mal hier hin und mal dort hin, als hätten das Feld einen eigenen Willen.

Als wäre jeder Halm beseelt.

 

An einigen Stellen bewegt es sich gegen den Wind, als würde ein Tier, vielleicht eine räudige Katze, durch das Gras schleichen.

 

Grün-blaue Wogen branden gegen meine Beine.

Das dunkle, zottige Fell eines riesigen Tieres.

Ich bin die Laus in seinem Fell.

 

Es riecht nach dumpfen Vergessen.

Fäulnis und Zerfall.

 

Uralter, verruchter Boden, der die Vergangenheit ausatmet.

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Blitze zucken über mich hinweg und erhellen für wenige Augenblicke die Szenerie.

 

Ich habe schon hübschere Wasserleichen untersucht.

 

Die Gegend ist morbid.

 

Wie bin ich nur wieder in so eine Situation hinein gerutscht ?!

 

 

Ich bin Johnson in die Halle gefolgt und habe ihn dort wieder aus den Augen verloren.

 

Verärgert...

klatsche ich den zweimal gefalteten Zettel mit der flachen Hand auf die Rezeptiostheke.

 

Genervt....

sage ich barsch, dass man dies an unseren 'gönnerhaften' Gastgeber weiterreichen soll.

 

Frustriert...

verlasse ich das Miscatonic und besteige ein Taxi. Bald werde ich wieder Zuhause sein.

Und morgen früh um 0800 werde ich um zehn Dollar ärmer sein.

 

Ich nenne meine Adresse, als ich sehe, wie Johnson die Strasse entlang eilt.

 

Gerade will ich aussteigen, um hinter ihm her zu setzen, als er ein Taxi heran winkt, einsteigt und die Verfolgung beginnt. 'Folgen Sie bitte dem Automobil!' wollte ich schon immer einmal sagen.

 

 

Und nun bin ich hier. In der Baker Street?

 

Was soll an dieser Strasse so beängstigend sein? Die Nacht an Halloween?

 

Aberglaube eines verkommenen, degenerierten Neuengland-Hinterwäldler-Gezüchts!

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Wie von Furien getrieben rennt dieser Johnson durch das Feld.

 

Hat dieser ominöse Unbekannte meinen Brief wohl schon gelesen? Egal!

 

Immer wieder blickt Johnson sich um, als würde er vor mir flüchten. Aber er scheint mich gar nicht wahrzunehmen.

 

Wovor läuft der Kerl nur davon?

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Während ich ihm vorsichtig folge, singe ich ein wenig leise vor mich hin. Das hebt die Stimmung.

 

Ist das Leben tatsächlich eine lustige Aufgabe? Auch für mich?

 

 

Niemand kann mich hören. Und wenn doch. Egal!

 

"La mer,

Au ciel d'été confond,

Ses blancs moutons,

Avec les anges si purs,

La mer bergère,

D'azur,

Infinie."

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Baker Street ?

Baker Street ?

Baker Street ?

 

Holmes ?

 

Sherlock Holmes ?

 

Lebt dieser Detektiv, dieser Sherlock Holmes, nicht in London, in eben der Baker Street 221b ?

 

Lächerlich ! Absolut lächerlich !?!

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Der Weg, ein Irrpfad. Durch die Wogen, durch den Sturm, entgegen - was? - entgegen einer Ansammlung fauligschwarzer Balken, die senkrecht in den schlammigen Erdboden gerammt worden sind. Ihre Ansammlung zu einem groben Kreis ist willkürlich, ihr Zweck unerfindlich.

 

Dann geschieht das Unglaubliche. Die Gestalt, die nun nicht mehr als 25 Meter entfernt war, stürzt. Sie stürzt wie Ertrinkender und wird verschluckt vom Gras. Unerbittlich. Gnadenlos. Verschwunden. Die Stelle, an der er vormals gewesen ist, verschließt sich wie eine heilende Wunde. Die einzigen Stellen, die das Gras nun unterbrechen, bist du und der Kreis modriger Balken, der kurz nach der Stelle postiert ist, an der du Johnson vermutest.

Edited by Blackdiablo
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Ich bücke mich und suche nach dem Mann.

 

Der fahle Schein des Mondes beleuchtet die Szenerie mit seinem bleichen Licht.

 

"Johnson! JOHNSON !! JOHN-SON !!!"

 

Hier ist er gestürzt.

Hier sollte er liegen.

Doch nirgends ist er zu sehen.

Wo ist dieser Narr.

 

Doch wer ist der eigentliche Narr.

Der, der voran geht?

Oder der, der ihm folgt?

 

Unverdrossen suche ich weiter.

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Du fühlst dich beobachtet, hier ist jemand oder etwas ... Liegt Johnson auf der Lauer? Eine List? Ist er weggegangen, um dich aufs freie Feld zu locken? Du spürst Unruhe und ein unangenehmes Kribbeln, das du nicht näher beschreiben kannst.

Du schlägst Büschel des Grases beiseite, das nun schon auf Brusthöhe liegt. Wo, wo kann er nur sein? Niemand! Hier ist niemand außer ...

 

Nein wirklich! Niemand ist hier! Nichts. Kein Ton ...? Tatsache! Der Regen macht kein Geräusch, dein Rufen lässt keinen Ton folgen. Stille. Widernatürliche Stille. Als hätte etwas alle Geräusche aufgesaugt. Doch dabei bleibt es nicht: Du realisierst, dass sämtliche Farben verblasst sind. Im Schein des Mondes (ist das der Mond?!) und der Blitze ist es dir vorher nicht aufgefallen, doch nun, da du inne hälst, merkst du, wie krank die Szenerie um dich herum ist. Das Licht ist gnadenlos und stechend weiß. Wie damals die Lampe im Zimmer des Gastgebers, als Faith eingetreten ist. Der Rest besitzt eine weißschlierig graue Färbung, als wäre die Realität schahl und freudlos.

 

Panisch blickst du umher und entdeckst dabei im Himmel Legionen von Vogelschwärmen, die über dir tonlos ihre Kreise ziehen. Wer ist es, der dich beobachtet?! Du schaust umher, hilflos, ein Insekt in der Falle, als sich eine Hand plötzlich um deinen Hinterkopf legt. Die Finger sind feingliedrig und zärtlich, aber kalt wie der erste Schnee. Taubheit breitet sich in deinen Gliedern aus und schmiegt sich an dich wie eine Geliebte. Du kannst dich nicht rühren.

 

"Du bist nicht Robbie.", dröhnt eine Stimme direkt aus und in deinem Kopf. Gottgleich. Grauenhaft. Herrlich. Eine Stimme, der man niemals falsch zu antworten hat. "Du bist nicht Robbie.", wiederholt es (?). Dann nach einer ganzen Weile: "Es ist gut, dass du hier bist."

Edited by Blackdiablo
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"Robert Johnson ?"

 

Die Realität ist schal und freudlos.

 

"Ich bin in der Tat nicht Mr. Johnson!"

 

Texturen in grau.

 

"Ich wollte mit ihm sprechen, aber er ist vor meinen Augen verschwunden. Genau hier ist er verschwunden."

 

Ich bevorzuge Schwarz und Weiss.

 

"Das fühlt sich gut an."

 

Jeder Weg endet. Irgendwann.

 

"Ich habe Dich vermisst. Sehr sogar."

 

Der Mensch stirbt und alles, was ihn einst ausmachte, vergeht.

 

"Ich wusste, Du würdest zurück kommen."

 

Es ist alles ohne Geschmack.

 

"Nimm mich mit Dir. Ich bin bereit."

 

Fade. Trist.

 

"Geraldine!"

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"Geraldine, nimm ihn - nimm ihn mit dir." Das Dröhnen ist beinahe sinnlich, als diese Worte ertönen. Und tatsächlich: Das weiße Phantom jener Frau, es umschmeichelt dich, ein frivoler Kuss wie ein Hauch, er vergeht, in diesem Wind vergeht alles. Tonlos. Ohne Spur. Du zwingst deinen Körper, dich zu regen, ihr zu folgen. Keine Chance. Das Phantom verblasst und vereint sich mit dem schlierigen Grau.

 

"Das war sie. Geraldine. Er wollte sie misshandeln, die Erinnerung an sie schänden. Verstehst du, was ich sagen will? Benjamin Robi Jackson strapaziert sein Schicksal. Ein Narr ist er. Bist du das auch, Jean-Louis Cypher?" Für einen Augenblick wird der Druck der Hand fester, beinahe unerbittlich.

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"Ich bin ein Mann!"

 

Nein! Sie verlässt mich.

 

"Und ja, ich habe ihr mein Herz geschenkt."

 

Erneut. Alles windet sich im Kreis.

 

"Jeder Mann ist ein Narr, wenn er sich verliebt."

 

Schon wieder verlässt sie mich.

 

"Ich hasse Dich, Geraldine. Ich hasse Dich mit jedem Atemzug. Mit jeder verdammten Zelle meines Körpers. In jeder davon halte ich Dich gefangen und an jede Zellwand hast Du Deinen Namen geschrieben."

 

Das ist nicht wahr. Ein Trugbild.

 

"Niemand kann die Erinnerung an sie schmälern.

Kein Andenken an sie kann geschändet werden."

 

Ich bin der Herr meines Verstandes.

 

"Aber wenn der Tod gnädig ist, dann schenkt er mir das Vergessen. Die Leere. Und die Ruhe."

 

Nichts vermag die eisernen Bande meines Geistes zu brechen.

 

"Ich bin der Herr meines Verstandes."

 

Ich schreie stumme Worte in die Nacht hinaus.

 

"Nichts vermag die eisernen Bande meines Geistes zu brechen."

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Alle Farben Grau. Die Macht des freien Willens. Rot - Gelb - Blau.

 

"Ein Mann muss in seinem Leben gelitten haben."

 

Alle Farben Grau. Die Macht des freien Willens. Rot - Gelb - Blau.

 

"Nur jener, der liebt, bekommt das Privileg des Leidens."

 

Alle Farben Grau. Die Macht des freien Willens. Rot - Gelb - Blau.

 

"Und nur der, welcher gelitten hat, hat auch wirklich gelebt."

 

Alle Farben Grau. Die Macht des freien Willens. Rot - Gelb - Blau.

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Der Druck wird schwächer, nun ist die Berührung wieder zart und tröstlich. "Du bist es wert, du bist es wert.", säuselt die Stimme. "Leid, echtes Leid, ein Gefühl, eine Regung, die ich nicht formen kann, ich bin unvollkommen, ein zweifelhafter Schöpfer, der den Ton formt, der den Odem bläst, der über sein unfertiges Werk stutzt und staunt. Doch das ist nicht der Grund, weshalb ich froh bin, dass dein freier Wille dich aus seinen Ränken gewunden hat. Der Grund ist, dass du sein kannst, was er ist - oder eher, was er war.

Heute ist er nichts weiter als ein Scharlatan, ein Betrüger, ein Dieb, ja, Dieb, er stiehlt Namen, um zu leben, er freut sich an dem Leid von anderen. Seine heutige Existenz ist der lebendige Beweis, dass ich ein weiteres Mal versagte. Einst sollte er ein Schicksalsschmieder werden, ein Knüpfer, Herr über sich und über andere, Wisser des Geheimnis. Das Geheimnis der NEUNZEHN." Wieder peitscht der Wind, ohne ein Geräusch zu verursachen, durch das Gras und streichelt dein Gesicht. Du merkst in diesem Moment, dass Blut unter deinen Augen antrocknet.

"Nun bleibt mir die Frage zu stellen, die dein Schicksal besiegelt, Jean-Louis Cypher: Willst du mir einen Gefallen gewähren, sodass ich es dir gleichtue, oder willst du, dass er dich für deinen törichten Brief straft?"

Eine Bewegung im Gras, ein Jemand erhebt sich, ein Schemen, ein gräuliches Schemen, aber mit Weiß gespickt, ein armer Teufel, der auf dich zu trottet und einen pistolenähnlichen Gegenstand in der Hand hält! Über ihm löst sich ein Vogel aus dem Schwarm, von dessen Flügeln gräuliche Flüssigkeit spritzt (Blut!) und das Haupt des Jemands mit Sünde sprenkelt.  Hinter ihm glüht das Weiß des Mondes wie ein tückisches Auge.

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