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Die Halle der Helden


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Hallo zusammen,

 

seit einiger Zeit beschäftigt mich wieder ein für mich zentrales Thema im Bereich Rollenspiel. Die Charaktererschaffung und -entwicklung, unabhängig vom Regelsystem und dem Chthulhu Universum. Ich würde gerne meine Meinung zu dem Thema kundtun und freue mich auf Eure Meinungen und Sichtweisen.

 

Am Anfang meiner Rollenspielkarriere stand Alrik der I., seines Zeichens Bauernsohn mit Holzknüppel. Nachdem er glorreich beim erstürmen der ersten Treppe verstarb und sein Bruder Alrik der II., drei Räume weiter, zu Gold verwandelt wurde, ließ mich das Thema seither nicht mehr los. Nachfolgend unterteile ich meine Gedanken in fünf klar abgegrenzte Phasen, auch wenn die tatsächliche Unterteilung wohl eher fließend und weniger überspitzt war.

 

Phase 1: Die Außergewöhnlichen

 

Sie waren die Ersten. Regeloptimiert ausgewürfelt, liebevoll ausgearbeitet bis ins kleinste Detail, inspiriert von Film und Buchvorlagen. Wahre Helden, man begleitete sie durch unzählige Abenteuer und Gefahren. Sie wurden stärker und stellten sich immer gefährlicheren Herausforderungen. Alles was das Regelwerk hergab, wurde optimiert eingesetzt, um sie immer stärker werden zu lassen. Unermesslicher Reichtum, geheiligte Waffen, magiedurchtränkte Socken und mit artefaktbehangener Brust fordernden sie selbst die Götter heraus. Doch Macht korrumpiert, und die Helden wurden zu Tyrannen, vernichteten ganze Dörfer und trieben unzählige Spielleiter in den Wahnsinn. Am Ende musste sich das gesamte Universum gegen Sie verbünden um das Gleichgewicht zu erhalten. Auch heute noch, sind Ihre Namen unvergessen, in der Halle der Helden kunstvoll in kostbaren Marmor gemeißelt. Als Mahnmal, für jeden Spielleiter.

 

Phase 2: Die Vergessenen

 

Menschen wie Du und ich, verletzlich, gewöhnlich und nicht besonders toll. Ja, sie haben Berufe und eine Geschichte, aber nachdem die ersten von uns gingen wurden die Geschichten kürzer die Charakterentwicklung unwichtiger. Man machte sich am besten gleich zwei oder drei von den "Helden", man möchte ja nicht warten bis man wieder "mitspielen" darf, weil der Wichtel mal wieder, einen total einfachen Wurf auf seine Berufsfertigkeit vergeigt hat. Nachdem Hans der 100. Dockarbeiter oder Ilse die 40. Reporterin nicht wieder von ihren Abenteuern zurück kamen, verblassten Ihre Charaktere und wurden zu austauschbaren Schablonen. Ihre Namen längst vergessen.

 

Phase 3: Die Anführer

 

Der Fokus liegt hier auf einer detailliert ausgearbeiteten Kommando Crew, flankiert von Heerscharen von "red shirts", dem Führungspersonal bleibt doch meist die bittere Erkenntnis, das unvermeidliche festzustellen ("Er ist tot Jim!"). Charismatische Anführer deren Namen unvergessen bleiben, ließen anderen den Vortritt und warteten erstmal ab. Der Tot wurde auf generische arme NPC´s verlagert, und die Helden feierten Ihre Erfolge. Doch blieb der bittere Beigeschmack, den Weg mit Leichen zu pflastern und selbst nichts getan zu haben. 

 

Phase 4: Auf Biegen und Brechen

 

Man besinnte sich und arbeitete detaillierte Charaktere aus. Gab Ihnen eine ausgeschmückte Geschichte, hegte und pflegte sie. Leider waren sie schwach und nicht besonder toll, deswegen musste man die Regeln verbiegen und brechen. Regeln wurden erweitert, entweiht und sektiererisch gehausregelt. Die Spielleiter, drückten Ihre Hühneraugen zu, ließen Glückswürfe und Schicksalpunkte geschehen. Manch ein Spielleiter würfelt sogar heimlich hinter seinem Sichtschirm und belog die Spieler. Die Geschichte war wichtiger, das Wir Gefühl entscheidend. Man wollte jeden Charakter ans Händchen nehmen und Ihm das Überleben in die Wiege legen. "Bist Du dir sicher, dass Du das wirklich tun willst?", war eine Spielleiter Standardfrage. Doch die schwachen Charaktere entwickelten sich, wurden zu echten Investigatoren und Forschern, es machte Spaß sie dabei zu begleiten. Dennoch fühlt es sich etwas "weich gespült" an!

 

Phase 5: One Shots

 

Gefährliche Abenteuer die es zu bestreiten gab, wurden mit vorgefertigten Charakteren bestritten. Die Kreativität wurde von den Spieler, auf Autoren und Spielleiter verlagert. Generische, seelenlose Avatare, die man schnell "bespielen" konnte, wurden in großer Zahl erstellt. Man identifiziert sich nicht sonderlich mit Ihnen, daher kann man sie auch mal "opfern" um die Welt zu retten. "Bestimmt hat der nette Spielleiter noch einen Ersatzavatar für mich erstellt, falls mein Wichtel mal schlecht würfelt!". Mich wundert es immer wieder, wie es die Akademien, Berufsbildungszentren und Universitäten schaffen die Reihen der Gefallenen schnell und unbürokratisch wieder aufzufüllen. Reporter- und Akademikersterben, also Fachkräftemangel, hat die Rollenspielwelt wohl noch nicht erreicht.  

 

Viel Zeit ist seit Alrik dem I. vergangen, die Halle der Helden scheint endlos. Viele Namen wurden hier eingetragen, an einige erinnern wir uns kaum noch, doch andere sind uns auch heute noch sehr vertraut.

 

Ich möchte noch anmerken, dass ich in jeder Phase meiner Rollspielkarriere viel Spaß hatte, daher bitte ich um Milde.

 

Dennoch, ist Charakterspiel für mich das Herz des Rollenspiels, wie ist das bei Euch und euren Spielern? Verwendet Ihr noch Zeit und Muse für die Charaktererschaffung und jahrelange Entwicklung eurer Persönlichkeiten? Oder bevorzugt Ihr eher einen Avatar um die Geschichte, dass Abenteuer zu erleben? In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass mehr und mehr die Charaktererschaffung und Entwicklung ein notwendiges Übel ist, um "Würfelwerte" zu generieren. Ich finde das sehr schade, weil nach meiner bescheidenden Meinung, dadurch ein zentraler Aspekt des Rollenspiels, ins Abseits geschoben wird. 

Edited by Marcus vom Fluß
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Schöner Post, war sehr unterhaltsam ihn zu lesen.

Um auf deine Frage zu antworten:

Dennoch, ist Charakterspiel für mich das Herz des Rollenspiels, wie ist das bei Euch und euren Spielern? Verwendet Ihr noch Zeit und Muse für die Charaktererschaffung und jahrelange Entwicklung eurer Persönlichkeiten? Oder bevorzugt Ihr eher einen Avatar um die Geschichte, dass Abenteuer zu erleben? In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass mehr und mehr die Charaktererschaffung und Entwicklung ein notwendiges Übel ist, um "Würfelwerte" zu generieren. Ich finde das sehr schade, weil nach meiner bescheidenden Meinung, dadurch ein zentraler Aspekt des Rollenspiels, ins Abseits geschoben wird.

Meine Spieler verwenden auf die Charaktererschaffung in der Regel wenig Zeit, was aber nicht heißt, dass ihnen ihre Charaktere nicht am Herzen liegen. Ihre Charaktere unterscheiden sich auch hinreichend voneinander und können gut abgegrenzt werden. Sie sind aber eher Schablonen oder Klischees als sehr detailliert ausgearbeitete Charakterstudien.

Ich muss gestehen, dass es mir als Spielleiter tatsächlich besser gefällt, wenn die Spieler ihren Charakteren eher wenig Hintergrund mitgeben. Bei viel Hintergrund verspüre ich bei mir selbst den Druck, diesen auch durch entsprechende Einbindung am Spieltisch relevant zu machen. Das bedeutet ehrlich gesagt Mehrarbeit, die ich gerne vermeide. Also soll der Charakterhintergrund im Idealfall kurz und knackig sein. Außerdem finde ich es allgemein reizvoller, wenn sich der Charakter erst durch die erlebten Geschichten formt, als wenn er schon am Anfang viel Hintergrundgeschichte hat. Ich denke, ein Charakter, der noch nicht so ausdifferenziert ist, kann sich leichter entwickeln, als ein Charakter, der schon recht klar ausgearbeitet ist. Hinzu kommt, dass ein Charakter mit weniger Hintergrund aus meiner Sicht leicht zu spielen ist, da ich als Spieler an weniger denken muss. Dinge, die der Charakter tatsächlich am Spieltisch erlebt hat und die ihn geprägt haben, sind da nach meiner Beobachtung memorabler.

Meine Spieler behandeln ihre Charaktere eher als Avatare als als eigenständige Personen. Sie sind notwendig, um überhaupt Rollenspiel spielen zu können und eine Geschichte zu formen. "Notwendiges Übel" ist hier aber definitiv der falsche Begriff. Schließlich liegen die Charaktere den Spielern wie gesagt am Herzen. Diese Avatar-Spielweise macht sich aber beispielsweise dadurch bemerkbar, dass meine Spieler selten (aber nicht gar nicht) denken "Was würde mein Charakter tun?", sondern aus ihrer Spielersicht überlegen, was zu tun ist.
Ich sehe übrigens nicht so sehr den Kontrast zwischen Persönlichkeitsentwicklung des Charakters einerseits und Werteentwicklung des Charakters andererseits. Werte, selbst Kampfwerte, können eine bestimmte Persönlichkeit abbilden, und wenn ein Charakter gezielt Kampfwerte steigert, heißt das ja nichts anderes, als dass der Spieler Angst vor dem Charaktertod hat. Auch Werte zu optimieren, empfinde ich nicht als Gegensatz zum Charakterspiel. Ein Feuerwehr sollte nun einmal stark und ausdauernd sein, ein Literaturprofessor gebildet, intelligent und fähig in seinen Sprachen sein. Für bestimmte Charakterkonzepte ist es daher aus meiner Sicht notwendig, Werte zu optimieren bzw. sehr hohe Werte zu verteilen, um die hohe Kompetenz eines Charakters auf einem gewissen Feld auch abbilden zu können. Es wäre doch sehr immersionsbrechend, wenn der hoch angesehen Literaturprofessor Deutsch auf 50 hat und einen komplizierten Text (schwierige Probe) nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 25% entschlüsseln kann, anstatt mit 45%, wenn er Deutsch auf 90 hat. Ein Student, der sich noch in vielen Dingen übt, sollte dagegen eher breit aufgestellt sein und statt wenigen Werten von 70, 80, 90% eher viele Werte von 30, 40, 50% haben.

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Meine Spieler behandeln ihre Charaktere eher als Avatare als als eigenständige Personen. Sie sind notwendig, um überhaupt Rollenspiel spielen zu können und eine Geschichte zu formen. "Notwendiges Übel" ist hier aber definitiv der falsche Begriff. Schließlich liegen die Charaktere den Spielern wie gesagt am Herzen. Diese Avatar-Spielweise macht sich aber beispielsweise dadurch bemerkbar, dass meine Spieler selten (aber nicht gar nicht) denken "Was würde mein Charakter tun?", sondern aus ihrer Spielersicht überlegen, was zu tun ist.

 

Da sieht man wie unterschiedlich man Rollenspiel betreiben kann. Diese Spielhaltung ist recht typisch für die Art wie z.B. mein Mann und seine Gruppen DnD spielen. Da geht es mehr darum, die Ressorucen gut zu verteilen, metagamingmäßig zu überlegen, wen man jetzt wo in der Schlacht hinstellt und wer welche Artefakte kriegt, weil sie ihm am meisten nutzen.

Ich persönlich mag diese Art zu spielen null. Und bitte bloß nicht falsch verstehen, ich finde es vollkommen okay, Rollenspiel so anzugehen! Absolut. Es ist nur so gar nicht meins.

 

Mir geht es genau umgekehrt. In jedem Charakter den ich über die Jahre...hm..Jahrzehnte :huh: ....gebaut habe steckt irgendein Aspekt von mir drin...aber der Charakter ist mehr als nur ein Avatar meiner selbst im Spiel. Für mich ist der Charakter zwar auch Vorbedingung um zu spielen aber er ist ein durchaus eigenständiger "Fun-Faktor" am Rollenspiel. Manchmal tritt die Geschichte sogar in den Hintergrund zu dem was die Chars machen oder das was sie tun wird eben selbst zu einem Teil der Geschichte.

 

Bei sehr intensiv gespielten Charakteren (v.a. im LARP da das Spiel da oft sehr intensiv ist) ging das teils so weit dass ich= Spielerin dachte... "okay, jetzt sollte ich das und das tun" und dann "f*ck, mein Charakter würde das aber nicht machen...der würde jetzt xy tun..." und das habe ich dann auch gemacht auch wenn das manchmal "dumm" war, den Char massiv in Gefahr gebracht hat o.ä..  :D  Heute hat dieses Konzept sogar einen Namen (nämlich "play to lose"). 

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