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Horror in den 1890ern


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Ich bin in diesem Forum auf einen länger zurück liegenden Abenteuerwettbewerb gesto?en, der damals Cthuluhu-Now betraf. Es war Vorgabe, speziell Szenario einzureichen, die nur in der Gegenwart spielen könnten und nicht in den 1920ern usw. Es entwickelte sich eine kurze Diskussion, was denn Gegenwart sei und man kam dann auf das Beispiel von Mobiltelefonen, die ein klarer Ausdruck der Gegenwart seien. Ein Szenario mit Mobiltelefonen als essentieller Bestandteil lie?e sich also nur mit Cthulhu-Now spielen.

 

Nun frage ich mich umgekehrt: Welche Aspekte lie?en ein Szenario nur in den 1890ern spielbar sein. Bzw. welche Horrorszenarien bieten sich vor allem für diese Zeit an?

 

Habt ihr schon in den 1890ern Szenarien geleitet? Wie habt ihr das Ambiente dieser Zeit ausgestaltet, um es unverwechselbar als 1890er erkennbar zu machen?

 

 

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Spontan fallen mir da verschiedene Dinge ein, auch wenn ich selbst noch kein 1890er Szenarion geleitet habe (ist nicht so das Ding für meine Spieler):

 

Zunächst einmal ist es das Zeitalter des Imperialismus. Gerade in Afrika dringen die imperiale Mächte (UK, Frankreich, Deutsches Reich, Belgien, usw.) in Gebiete vor, in denen bestenfalls einzelne Händler, Missionare oder Ethnologen schon mal waren. Das bietet natürlich hohes Potenzial für "Eingeborenen Horror".

 

Dann gibt es in dieser Zeit auch ein aufblühen des Okkultismus und vieler rassistischer Ideologien (z.B. von Houston S. Chamberlain). Da bietet sich natürlich an in diesen Kreisen zu ermitteln. Vll haben sie sich ja mit Dingen eingelassen, die besser hätten im Verborgenen bleiben sollen.

 

Und dann gibt es natürlich noch den klassischen "Elendsviertel von London"-Horror, eine Mythosversion von Jack the Ripper oder Dr. Jeckyll und Mr. Hyde beispielsweise. Es gibt sogar ein Sherlock Holmes/Mythos-Cross Over als Geschichtensammlung, dass ich allerdings noch nicht gelesen habe.

 

 

Wie man jetzt speziell die 1890er darstellen sollte ist natürlich schwierig. Am sollte man versuchen, den Zeitgeist einzufangen und den Sitten der Zeit Platz zum Ausspielen einräumen. Und offensichtlich sind natürlich die die technischen Unterschiede, die man den Spielern klar machen muss (keine Autos, keine Flugzeuge, kein Film, usw.). Wenn man mag kann auch über den Plot hinaus den Hintergrund mit aktuellen politischen Ereignissen lebendiger machen.

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Ich habe mir über das Problem auch schon öfter Gedanken gemacht, aber es fällt mir doch schwer das ins Spiel (und seine Regeln) wirklich einzubauen.

 

Denn meiner Ansicht nach der wohl grö?te Unterschied zu Now und den 1920ern sind die viel stärkeren Standesgrenzen, das Bewusstsein für eine durch und durch hierarchische Gesellschaft und die zwingende Notwendigkeit zur passenden Etikette und äu?erer Erscheinung.

 

Gerade in Deutschland liegt zwischen Gaslicht (ich halte gerade 1890 als Epoche für ziemlich unpassend, daher nutze ich lieber den Begriff Gaslicht) und den 1920ern ja die Abschaffung des Adels etc. und auch in anderen Staaten hat sich der Zeitgeist dahingehend geändert.

 

Um es an einem Beispiel kurz zu machen: Nach einem Kampf mit Ghoulen in der Kanalisation sollte der erste Griff von Gaslichtcharakteren nicht nach dem Telefon oder den Autoschlüsseln sein um die Polizei zu alarmieren, sondern zur Kleiderbürste!

 

Aber dafür dass das nicht wie ein lächerlicher Spleen sondern stattdessen als grundlegendes Paradigma der Gesellschaft am Spieltisch erscheint bräuchte es wohl metagame-Ideen.

(Apropos: Auch der Wahnsinn ist etwas spezieller. Man schaue nur mal in den Sherlock Holmes-Geschichten wie oft die Klienten befürchten ihren Verstand zu verlieren sollte irgendein unstandesgemä?es ?rgerni? nicht verschwinden!)

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Kennste Das Geheimnis des verborgenen Tempels, AA? - DAS ist für mich 1890er-Spiel. :)

 

Ich habe zwei lange Kampagnen im London der 1890er gespielt und ich denke, die Atmosphäre kommt da von selbst. Der Nebel, die Kutschen, die Herren in Anzügen und die Damen in geschnürten Korsetten, die Kulissen vom vornehmen West End bis zu den Slums in Whitechapel, die unendlichen Möglichkeiten an plot hooks, welche dadurch entstehen, dass alle Welt in die Hauptstadt des Empires drängt.

 

Nach meinem Empfinden profitiert eine 1890er-Kapagne von einer eher pulpigen Herangehensweise im Sinne von: der Lord, sein Butler, der Gro?wildjäger, die Blumenverkäuferin und die Journalistin bekämpfen das Böse und reisen an aufregende und exotische Orte, um es zu vernichten. Mit zu starken Realismusbezügen tut man sich da, glaube ich, keinen Gefallen.

 

Für die 1890er passen die ganzen klasischen Gruselklischees wie Arsch auf Eimer, das Spukschlo?, der Geisterhund im Moor, der Vampir, der unheimliche Schlitzer, der aus dem Nebel heraus zuschlägt und der finstere Kult vom anderen Kontinent.

 

Mann, bekomme ich grad wieder Lust, in der Zeit zu spielen ... :)

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Das mit den geheimnisvollen bösen Orten ist sicher richtig. Noch mehr als in den 1920ern kann man bei den 1890ern davon ausgehen, dass weite Teile der Welt noch nicht richtig erforscht und kartografiert sind. Man könnte viele Erkundungsexpeditionen spielen. Lovecraft erwähnt so etwas ja wie Geheimnisse des Kongo bzw. die Landschaften Chinas mit Tibet usw.

 

Die klassischen Gruselszenarien mit Spukschloss usw. sind aber nicht mythosspezifisch. Sie sind aber natürlich nicht schlecht. Man könnte ja ein Mythoswesen als eigentlichen Grund für eine vermeintliche Geistererscheinung im Spukschloss einsetzen.

 

Das Geheimnis des verborgenen Tempels, AA, kenne ich bisher leider nicht.

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Im Cthulhu-Blog hatte ich mal was zu Gaslicht geschrieben, ich zitiere mal (Original hier):

 

Ich glaube, es ist die ungeheure Grö?e. Das gewaltige, riesige Ausma? der Dinge unterhalb der Oberfläche. Die Finsternis der Träume.

- Neil Gaiman

Eine Studie in Smaragdgrün

 

In der Epoche des Viktorianischen Zeitalters (Die Regentschaft von Königin Viktoria reichte von 1837-1901) zu dem auch die Gaslicht Epoche gehört, entstanden viele klassische Werke der unheimlichen Literatur. Stokers Dracula, M.R. James Geistergeschichten und auch Stevensons Leichenräuber zählen alle dazu, genauso wie Hodgsons Geisterjäger Carnacki oder der reale Jack the Ripper. Es scheint so als ob Horror in dieser Zeit zu Hause wäre, was auch bei den Themen und Konzepten für Cthulhu im Gaslicht auffällt. Man kann nicht leugnen, dass es viele Konfliktlinien gibt, die ein interessantes Spiel ermöglichen und genügend Raum für eigene Szenarioideen lassen. Im Folgenden sollen einige Themen und Konzepte vorgestellt werden, die sich ganz sicher auch in anderen Epochen nutzen lassen, wenn man nur den Fokus ein wenig verschiebt, wobei es ungemein interessant ist, dass gewisse Konflikte wohl immer existierten und auch existieren werdenà

 

Alte Familien û Uraltes Grauen

In alten Familien werden Geheimnisse von Generation zu Generation weitergegeben. Die Macht alter Namen ist gro? und es gibt rund 200 alte englische Familien des reichen Hochadels. Viele dieser Familien sicherten ihren Besitz durch Ehen und Bündnisse, die jedoch das Blut über die Jahre krank machten. Degeneration und Verfall wie in der Exham-Priorei (siehe H.P. Lovecrafts Ratten im Gemäuer), können hinter so mancher Fassade lauern. Welche Familie hat keinen unangenehmen Verwandten? Und manche Verwandte sind vielleicht so unmenschlich, dass sie niemals das Licht des Tages sehen dürfen und doch tragen sie einen bedeutenden Namen und sind von Geburt aus bessere Menschen, oder?

 

Lust & Tabu

In den 1890er Jahren gab es neue Leistungen in der Sexualforschung und doch blieb Sex etwas verdorbenes und schmutziges. Wissenschaftlich katalogisierte und kategorisierte man das sexuelle Verhalten. Doch weiterhin galt der Akt als tierisch und primitiv. Sex musste kontrolliert und gezügelt werden. Nur bedacht sollten die Zügel gelockert werden, denn sonst könnte die Karriere des Einzelnen oder gar die gesamte Wirtschaft der Nation leiden! Die Etikette sorgt für einen geregelten Umgang untereinander, doch in den Slums Londons, wo die Prostitution oft die einzige Möglichkeit war wenigstens etwas Geld zu verdienen, spielt Etikette keine Rolle und jedes Tabu wird für den richtigen Preis gebrochen. Die Qualen dieser Frauen die sich selbst verkaufen müssen, werden womöglich nur durch die Lebensgefahr übertroffen in der sie schweben, wenn sie mit ihren Freiern in dunkle Gassen und lehmverkrustete Kutschen stiegen.

 

Religion, Okkultismus & Spiritismus vs. Technischer Fortschritt

Okkultistische Gesellschaften und Gruppen boomten in den 1890er Jahren. Die Freimaurer, The Hermetic Order of the Golden Dawn (Hermetischer Orden der Goldenen Dämmerung) oder die Theosophische Gesellschaft erfreuten sich gerade in der Oberschicht einer gewissen Beliebtheit. Auch der Spiritismus (also das Anrufen der Geister Verstorbener durch ein Medium) war damals chic und ein gelungener Zeitvertreib (Mehr zum Thema siehe London û Im Nebel der Themse & Spielleiterhandbuch). Auch die Religion war gerade in der Mittelschicht ein fester Pfeiler des tagtäglichen Lebens. So nutzte die Mittelschicht die Religion zur klaren Abgrenzung gegen die lasterhafte Oberschicht und die unzivilisierte Unterschicht. Das gemeinsame Beten und die Heiligung des Sonntages waren feste Bestandteile des Alltags und ging mit der gleichzeitigen Verteufelung von Glücksspiel und Alkohol einher. Das Credo lautete Sparsamkeit, harte Arbeit und Anständigkeit um dem Fegefeuer des Jüngsten Gerichts zu entgehen.

Der Hang zum Glauben und zur Spiritualität kann vielleicht durch den rasanten Technischen Fortschritt und die damit verbundene Angst erklärt werden. Niemand wusste wohin die Reise geht, alles war möglich. Schon seit 1807 sorgte das Gaslicht für Helligkeit in der Finsternis. Grünlich waberte der trügerische Schein in den Gassen und sorgte für vermeintliche Sicherheit. Die Fabriken, die durch die Industrielle Revolution entstanden, wurden weiter ausgebaut. Flie?bandarbeit und zischende Dampfmaschinen treiben nun die Arbeiter weiter bei der Produktion an. Röntgen entdeckt die gleichnamige Strahlung, die Gebrüder LumiÞre stellen 1895 ihren Kinematograph vor, das Radio und der Dieselmotor erblicken das Licht der Welt. Die Technik bringt Neuerung um Neuerung und der einfache Mensch sieht mit offenem Munde zu. Auf den Weltausstellungen ringen die Nation um die besten Leistungen und die Grenze scheint nur die Vorstellungskraft zu sein!

 

Arm vs. Reich

Es ist ein Kampf ums ?berleben. Jeden Tag versuchen etwa 2/3 der Bevölkerung sich mühsam zu ernähren und schuften in den schwarzqualmenden Fabriken bis die Lunge schmerzt und die Glieder zittern. Kinder werden mit fünf Jahren bereits in die menschenunwürdigen Arbeitspläne eingespannt, denn der Konkurrenzdruck ist hoch und Gewinne sichern das ?berleben der Fabrik. Ohne Pause werden 12-Stundenschichten geschoben und der mickrige Lohn reicht gerade aus, um den nötigsten Bedarf zu decken. Wenn die Konjunktur lahmt, ist der Beutel leer. Depressionen entladen sich gemischt mit Alkohol in Raufereien und nicht wenige verlassen den Pfad der Schinderei und wandern auf illegalen Wegen um sich den Lebensunterhalt zu verdingen.

Dagegen leben Land- und Hochadel in Prunk und Pracht. Landsitze von fürstlichem Ausma?e und die dekadente Lebensweise lassen die Lords und Ladys leicht die schmutzigen Gassen in den Armenvierteln der Städte vergessen. Und zwischen beiden Extremen schwimmt die Mittelschicht. Doch immer wenn jemand von ihnen versucht in das Boot der Lords zu steigen, wird er unsanft mit dem Paddel zurück ins kalte Wasser befördert. Hier muss man kräftig strampeln um nicht auf den morastigen Grund zu sinken, wo Arbeiter und Seeleute den Bodensatz bilden. Was dort unten gärt, ahnt niemand in den Inseln des Wohlstandes.

 

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