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[Nightmare Bites] Kap.1: BÜHNE AUF EIS


Der Läuterer
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Ich nehme die angebotene Hand und erwidere den Handschlag mit festem, selbstsicheren Druck. Aber das bedeutet nicht, dass ich Hartmut trauen würde.

 

"Da ist sie wieder: Die Theorie, dass ich Matilde in Gefahr bringe! Welchen Sinn hat es, mir zu danken, wenn ich doch die Ursache für das ganze Chaos sein soll?"

 

"Ich habe in meinem Leben einige Dinge gesammelt, die ... einen gewissen Wert besitzen. Aber kaum einen Wert, der für jeden klar ersichtlich wäre. Die meisten werden darin nicht mehr als primitive, heidnische Kunst Eingeborener sehen oder ein paar antike Sammlerstücke. Auf Herm habe ich ein kleines Buch gefunden ... ein Buch mit Texten, die nicht für jedermanns Augen bestimmt sind. Matilde wird Ihnen davon berichtet haben.

 

Manchmal fühle ich mich verfolgt ... oder bedroht. Aber erst nach meiner Rückkehr von Herm hatte ich erstmals einen klaren Hinweis, dass Menschen mir folgen könnten. Früher war es nur das Bewusstsein, ein ... etwas ... im Kongo gestört zu haben. Ich habe diese Zusammenhänge bis heute noch kaum entschlüsseln können. Es ist mehr ein Gefühl, als belastbares Wissen.

 

Ich glaube nicht, dass man in dieser Stadt überhaupt sicher sein kann, wenn man ... um gewisse DINGE weiß. Ich habe mich in London noch nie sehr wohl gefühlt. Die unterirdischen Verbindungen zur Themse ... über die Themse zum Meer ... gewähren Wesen Zutritt zur Stadt, die unsere 'Wissenschaft' noch nicht erforscht hat.

 

Dennoch mag ich nicht so recht glauben, dass mich hier in London etwas erwartet hätte. Woher hätte man von meiner Ankunft Kenntnis haben sollen?

 

Etwas, was ich bei mir habe, meinen Sie?" Ich denke kurz nach. "Kaum! Das, was mir folgt, hat es wohl eher auf mich abgesehen."

 

"Und SIE", ergänze ich in Gedanken. "Aber ist SIE überhaupt noch in mir? Nach den Geschehnissen von heute nachmittag?"

 

Ich verfalle der Versuchung in mich hineinzuhorchen, obwohl ich weiß, dass SIE kaum antworten wird, selbst wenn ich SIE noch in mir trage.

 

"Es war ein Fehler, die Pension verlassen zu haben! Ich wusste es von Anfang an! Cainnech war ebenfalls fort. Niemand ist dort, um den Koffer zu schützen. ... Es wird schwierig sein, den großen Überseekoffer unbemerkt durch die Pension zu schleppen. Aber ist es unmöglich? Wird SEINE Macht ausreichen, um den Koffer und seinen Inhalt zu schützen? Jeder, der sich des Koffers gegen meinen Willen bemächtigt, ist verflucht ... aber Flüche wirken mitunter langsam ...

 

Warum wollte Hartmut unbedingt, dass wir die Pension verlassen? Warum wollte er auf keinen Fall, dass wir auf mein Zimmer gehen?"

 

Der Samen eines Verdachtes ist in meinem Verstand gelegt und beginnt zu sprießen.

 

"Nichts ist wichtiger für Hartmut als Matilde und Alexander, nehme ich an. Welchen Wert hätte meine Habe für die, die ihn verfolgen? Genug Wert, um ihm und den seinen ein Stück Freiheit zu erkaufen? Hartmut würde wohl keine Sekunde zögern. Aber was könnte Hartmut über mich und meine Artefakte wissen? ... Die Briefe an Matilde ... hat er sie gelesen?"

Edited by Joran
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Dienstag, 07.01.1930
Abends in der Pension (London)

nach einem Gespräch 'Unter 4 Augen' mit Hartmut

 

Als ich mit dem Taxi zurück zur Pension fahre, beginnt es erneut zu schneien. Große weiße Flocken sammeln sich auf der Windschutzscheibe.

 

Der Verkehr auf den Straßen ist ruhiger. Die Fahrzeuge passen ihre Geschwindigkeit den Bedingungen an. Alles wirkt entspannter ... friedlicher.

 

Der Schnee schluckt die Geräusche. Das monotone Tuckern des Motors unterstreicht die Stille um mich herum.

 

"Was wird mich in der Pension erwarten? Was lasse ich in der Detektei zurück?

 

Habe ich heute überhaut irgendetwas richtig gemacht?", frage ich mich ratlos.

 

Ich schaue aus dem Seitenfenster und spüre Tränen in meinen Augen. Tränen der Erschöpfung. Tränen des Verlustes angesichts der Stille in meinem Innern. Tränen des Hilflosigkeit angesichts dessen, was sich vermutlich gerade in der Detektei abspielt.

 

Nachdem das Taxi mich abgesetzt hat liegt vor der Pension ein unberührt wirkender Teppich aus Neuschnee. Als ich am Empfang vorübergehe ignoriere, ich den kritischen Blick der Zimmerwirtin. Ich weiß selbst, in welchem Zustand ich und meine Kleidung sich befinden. Auf den Hinweis, die bestellte Zeitung liege auf meinem Zimmer, nicke ich nur.

 

Auf dem Gang zögere ich kurz vor dem Zimmer von Cainnech. Ich will ... ich kann ihm jetzt nicht vom heutigen Tag berichten.

 

Nach einem Augenblick klopfe ich leise an die Tür. "Cainnech? Wir rede morgen. Ich bin müde. Der Tag war anstrengend!"

 

Ich höre Bewegungen hinter der Tür, aber ich gehe weiter, auch als sich die Tür hinter mir öffnet.

 

In meinem Zimmer scheint alles unverändert. Mein Stock neben dem Mantel an der Garderobe. Der Überseekoffer unter dem Bett.

 

Auf dem Tisch liegt noch immer Matildes Brief. Daneben hat jemand die Zeitung gelegt. Auf der Titelseite der Aufmacher über die Schießerei, den ich heute morgen auf dem Bahnsteig gesehen habe ... heute morgen, als noch alles anders war.

 

Müde ziehe ich meinen verschmutzen Anzug aus. Ich entdecke dunkle Flecken auf der Schulter ... Matildes Blut und mein eigenes Blut. Ich habe den Eindruck, ihren Körper wieder in meinen Armen zu spüren, wie in der Änderungsschneiderei ... wie in jener Nacht im Böcklin Haus.

 

Seufzend leere ich die Taschen des Anzugs. Eine Weile betrachte ich die goldene Uhr und den Schlüssel an der Kette, betrachte die Schlösser des Koffers, die unberührt sind. Ich würde gerne etwas für Alexander tun, IHN um Glück für den Kleinen bitten. Aber ich glaube nicht, dass er mich anhören würde. Ich fühle mich ... befleckt. Ich scheue mich davor, IHM gegenüberzutreten. Fürchte, seine Ablehnung zu spüren.

 

"Ich muss mich ... reinigen. Ich muss lernen ... mehr erfahren über Yog-Sothoth ... irgendwie einen Weg ... ein Schlupfloch finden, wieder ich selbst zu sein."

 

Ich beginne zu begreifen, dass diese Suche mein künftiges Leben bestimmen wird.

 

Unvermittelt denke ich, Matildes Nähe wird mir helfen, diese Aufgabe zu bestehen. Sie ist für mich ein Fels in der Brandung ... heftig umtost und doch ... ein beständiger, sicherer Orientierungspunkt. "Ergibt das einen Sinn?", frage ich mich. "Können zwei Menschen mit unserer Vergangenheit sich gegenseitig stärken? Eines Tages werde ich mit ihr reden können ... irgendwann, wenn sie soweit ist. Morgen werde ich mit meiner Suche beginnen."

 

Langsam lege ich Schlüssel und Uhr auf den Nachttisch am Kopfende des Bettes. Fast wehmütig streiche ich über die Uhr. Das vertraute Gefühl stellt sich nicht ein. Dann werfe ich den Anzug in den Papierkorb neben dem Tisch und lösche das Licht.

 

Durch das Fenster dringt ein hartes weißes Licht, das vom Schnee reflektiert und an die Zimmerdecke geworfen wird. Ich liege im Bett und starre an die gekälkte Decke ... beginne die Unebenheiten im Putz zu studieren ... wie damals in meinem weißen Refugium. Der Schlaf bleibt aus. Ich fürchte mich zu sehr vor dem, was mit dem Schlaf über mich kommen könnte. Werde ich wieder die Grenzen überschreiten, wie damals im Böcklin Haus?

 

Ich bin so müde ... aber ich will nicht schlafen. Stattdessen denke ich an Matildes verzweifeltes Geständnis und die Bitternis in ihren Worten zurück:

 

"Ich bin wieder schwanger. Hartmut weisst es noch nicht"

 

"Hartmut ist in der Lage, Alex aus der Bildfläche und sich selbst veschwinden zu lassen. Wir wussten, dass so eine Zeit auf uns wiederkommt. Besser so, als seinen Tod, oder noch schlimmer, wenn er in den Händen der Orga fallen würde..."

 

"Seit fünf Jahren leben wir so. Bisher hat es gut geklappt. Ich dachte schon..irgendwie war es geregelt. Aber ich habe mich getäuscht. Wie konnte ich nur Alexander in der Welt setzen? Wir werden solange verfolgt, bis wir tot sind. Wenn Hugh und Alex schaffen zu verschwinden...das wäre gut...

 

Aber wie soll ich ihm sagen, dass ich wieder schwanger bin?

 

Er ist ein unmöglicher Mann, aber ohne ihn wird..schwer. Aber wenn der kleine Mann dadurch sicher ist..dann ist es Wert"

 

"Wird Alexander bei Hartmut sicher sein? Ich wünsche es ihm! Es liegt nicht mehr in meiner Hand. Und es macht keinen Sinn Matilde mit solchen Fragen zu belasten. Dieser Gedanke ist der einzige Trost, der ihr bleibt, wenn Hartmut und Alexander gehen. Ich hoffe, Matilde wird nicht daran zerbrechen. Sie war so glücklich mit Alexander. Sie hat allen Grund, den Jungen zu lieben." Wieder überkommt mich der Zorn angesichts Hartmuts Verhalten. Wieder zweifele ich, ob er Matilde nicht nur benutzt hat, ob es ihm nicht immer nur um dieses Kind ging. Wieder nagt in mir der Verdacht, Hartmut könnte die heutigen Ereignisse inszeniert haben. Darum zwinge ich meine Gedanken in eine andere Richtung:

 

"Wenn dieser Tag auch nur eine einzige positive Neuigkeit enthielt, dann war es dieses ungeborene Kind. Etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ein Funken Hoffnung in all diesen furchtbaren Entwicklungen."

 

Ich beginne Pläne zu machen, Pläne für den Fall, dass Matilde ... alleine zurückbleibt.

 

Ich muss Matilde überzeugen, mit mir nach Irland zu kommen. Wir müssen untertauchen, bevor man ihr die Schwangerschaft ansieht. So schlank, wie Matilde ist, sollte Matilde in ein oder zwei Monaten von der Bildfläche verschwinden. In Irland werden wir in Sicherheit sein. Dort wird sie niemand zu Gesicht bekommen.

 

In meiner Vorstellung spiele ich alle erforderlichen Vorbereitungen durch, um eine Entbindung in der Abgeschiedenheit meines Hauses durchzuführen.

 

"Ich selbst werde als Arzt die notwendigen Dokumente ausstellen. Niemand wird merken, dass das Kind in Wahrheit ein paar Monate älter ist, als sein offizielles Geburtsdatum aussagt. Niemand wird dieses Kind noch mit Hartmut in Verbindung bringen. Niemand außer Matilde und ich und Cainnech ... und wir werden schweigen."

 

Ich hoffe, Matilde wird dem zustimmen. Ich hoffe ...

 

Was bleibt Menschen, wie wir es sind, auch anderes, als zu hoffen?

Edited by Joran
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Clive's Pension

Mittwoch, 08.01.1930

 

Am Morgen klopft es an Deiner Zimmertür. "Guten Morgen, Herr Doktor. Frühstück ist fertig."

 

Es ist Deine Vermieterin, die Witwe Ellie Loock. "Ich stelle Ihnen das Tablett vor die Tür."

 

"Sie haben doch von der Auktion erzählt, wegen der Sie hier nach London gekommen sind. Da ist ein gruseliger Artikel in dem Journal, das ich lese und das jeden Mittwoch erscheint. Vielleicht interessiert es Sie?"

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Cainnech

 

Schweigend sitze ich auf der Bettkante und beobachte den Doc.

 

"Etwas ist anders heute.

 

Es ist nichts gravierendes ... nur eine Summe aus unbedeutenden Kleinigkeiten, die mich in Unruhe versetzt.

 

Da ist eine kaum merkliche Veränderung in der Art, wie er an dem Tisch sitzt und seine Pfeife raucht, um diese ungewöhnlich frühe Stunde für eine Pfeife: die aufrechte Haltung ... der beste Anzug, den er trägt und der in dieser Haltung wieder wie angegossen sitzt ... das entspannte Gesicht beim Lesen des Artikels, ganz ohne die typisch zusammengekniffenen Augen ... der Anzug vom Vortag im Papierkorb zu seinen Füßen ... das sorgsam gekämmte Haar und der frisch gestutzte Bart ... das bis auf den letzten Krumen verzehrte Frühstück ... daneben die alte Lightning, gereinigt, geölt und auf Hochglanz poliert ...

 

Wenn ich es mir recht überlege, begann dieses Gefühl bereits, als ich an die Tür geklopft hatte und den Klang seiner Stimme hörte.

 

Dies alles hätte ich ignorieren können. Der gute Anzug und die Rasur könnten dazu dienen, auf seine Freundin einen guten Eindruck zu machen. Vielleicht hat der Doc gestern Vormittag noch einen Barbier aufgesucht, als ich schon auf dem Weg zum Flugplatz war. Das wäre denkbar. Warum sollte nicht auch ein Mann seines Alters einen guten Eindruck auf eine Dame machen wollen. Schließlich sind wir hier nicht mehr auf dem Dorf, sondern in London.

 

Die Lightning ... nun ... der Doc hatte immer schon ein ... belastetes ... Verhältnis zu dieser Stadt. Man liest ja auch immer wieder von den schrecklichsten Verbrechen, die in London geschehen.

 

Dies alles hätte ich also vielleicht noch ignorieren können.

 

Nicht aber die Uhr und den Schlüssel auf dem Nachttisch."

 

Wohl zum hundertsten mal huscht mein Blick zu den beiden Reliquien auf dem Nachttisch.

 

"Ich habe noch nie erlebt, dass der Doc diese beiden Gegenstände nicht am Körper getragen hätte. Sie außerhalb seiner Griffweite liegen zu sehen, kann ich nicht ignorieren.

 

Nein, etwas ist ganz gewiss anders heute."

 

"Wir sollten wohl aufbrechen, Cainnech! ... Wir haben heute viel zu tun. Zuerst möchte ich ein paar Anzüge in Auftrag geben. Bitte nimm Du solange meine Waffe. Ich will dem Schneider ja keinen Schreck einjagen, wenn er Maß nimmt. ... Und nimm Dir vorsichtshalber auch eine Waffe mit ... man weiß ja nie."

 

Ich lausche verständnislos seinen Worten. Die Verwirrung scheint mir ins Gesicht geschrieben, denn der Doc hält kurz inne, als er die Zeitung auf das Tablett legt und mich ansieht.

 

"Gestern ist eine Menge geschehen", fügt der Doc nachdenklich hinzu. "Eine Menge Puzzleteile wurden ausgestreut. Wir müssen sie einsammeln und dann zusammenfügen, damit wir herausfinden, was sich für ein Bild darauf verbirgt. ... Viele Leute scheinen bereits auf der Suche nach den Teilen zu sein. ... Es hat bereits Tote gegeben. ... Und nach dem, was gestern geschehen ist, können wir uns wohl kaum noch aus der Angelegenheit heraushalten."

 

Erneut macht der Doc eine Pause, vermutlich um zu entscheiden, wieviel er mir anvertrauen will.

 

"Matilde wird sich uns heute anschließen ... hoffe ich inständig. Sie ist bedroht worden ... sehr ernsthaft bedroht worden!"

 

Der Doc scheint seine Worte sorgsam abzuwägen, als er fortfährt:

 

"Matilde ist ... kein Mensch, der Schutz sucht. ... Du wirst Sie ja wahrscheinlich heute kennenlernen. ... Aber sie ist ein Mensch, ... der Schutz verdient. ... Verstehst Du, was ich sagen will?"

 

"Du meinst, sie ist es wert", antworte ich ohne zu überlegen.

 

Clive lächelt und nickt. "Der Doc ... lächelt! ... Er lächelt ohne jede Spur dieser Wehmut oder Traurigkeit, die ihn sonst stets wie eine Aura umgibt! Nein, etwas stimmt hier ganz und gar nicht."

 

"Das ist schließlich mein Job", merke ich gespielt gleichgültig an. Der Doc nickt nochmals zufrieden.

 

Als ich aufspringe, um ihm in den Mantel zu helfen, lehnt er dankend ab. Der Doc ist schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als ich vorsichtig einwerfe: "Doc ... die Uhr ...!"

Edited by Joran
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