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[Nightmare Bites] Kap.1: BÜHNE AUF EIS


Der Läuterer
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LONDON

Bahnhof Victoria, Ostteil - Gleis 8

Dienstag, 07.01.1930

 

Der Zug aus dem Norden Englands trifft gegen Mittag in der Stadt ein.

 

http://www.warwickshirerailways.com/gwr/birmingham-snowhill/locomotives/gwrbsh1955.jpg

 

Mit dem Zug kommt eine Eiseskälte nach London. Und ein warmherziger, aber verbohrter, alter Ire.

 

http://4.bp.blogspot.com/-aQKOVdLRoYo/UwlLQCzlBsI/AAAAAAAAQlw/II_imxpDsA0/s1600/bethesda+fountain+by+jacob+santiago.jpeg

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Cardiff, Wales

Montag, 06.01.1930

 

Cainnech

 

Schweigend gehe ich neben dem Doc zurück zur Pension in der Queen Street. Wie so oft scheint er in düstere Gedanken versunken. Unverhohlen kann ich Savage von der Seite beobachten.

 

Es ist schon merkwürdig, wie der eigene Alterungsprozess die Sichtweise auf die Mitmenschen beeinflusst. Solange ich zurückdenke, war der Doc für mich ein alter Mann, nachdenklich und in sich gekehrt. In Wahrheit muss Savage eher in seinen besten Jahren gewesen sein, als ich ihn kennenlernte. In den letzten eineinhalb Jahren scheinen mir die Falten in seinem Gesicht tiefer und seine Haltung gebeugter geworden zu sein. Jetzt ist er wirklich alt geworden!

 

Ich verdränge diesen Gedanken. Zu oft habe ich ihn in den letzten Jahren schon gedacht, nur um dann wieder festzustellen, dass der Doc irgendwie doch der Gleiche geblieben ist.

 

Meine Gedanken schweifen in die Vergangenheit.

 

Meine erste Erinnerung an Doc Savage liegt viele Jahre zurück.

 

Dr. Savage war es, der meinen Vater heim brachte … der das aus Flandern zurück brachte, was die Deutschen und der Große Krieg von meinem Vater übrig gelassen hatten. Ich war damals ein Junge und mein Vater schien mir im Krieg zu einem Fremden geworden zu sein. Im ersten Augenblick hasste ich den Doc dafür, dass er anstelle des starken Vaters meiner Erinnerung einen blinden, verstümmelten Mann in unser Haus brachte. Ich sehe die stummen Tränen meiner Mutter vor mir und ich höre das leise Schluchzen meiner Schwestern, als sei es gestern gewesen. Mir fehlten an diesem Tag die Tränen. Meine Augen brannten, so trocken waren sie. Ich rannte aus dem Haus, griff mir die Axt und spaltete Holz, stellte mir vor, es seien die Köpfe deutscher Soldaten. Ich hörte erst auf, als der Doc mir ruhig seine Hand auf die Schulter legte und sagte, für den Winter sei nun wohl vorgesorgt. Zuerst wollte ich mit der Axt auf ihn losgehen. Aber da war etwas in seinem Blick, das mich davon abhielt.

 

Tags sprach Vater nicht viel. Dafür hörte ich ihn nachts stöhnen und schreien. Ich hasste die ganze Welt und Vater gleich mit. Ich hasste die Deutschen, ich hasste unsere Armut und ich hasste den Doc für seine regelmäßigen Besuche, bei denen er uns Medikamente, Essen und ein wenig Geld brachte. Ich wollte keine Almosen. Ich wollte keinen Krüppel zum Vater. Ich wollte nicht arm sein. Ich wollte nicht schwach und jung sein. Ich wollte stark sein, wollte die Familie schützen und führen. Ich wollte frei sein, frei und ungebunden. Ich träumte, ich wäre Cú Chulainn, Sohn des Lugh, und könnte schneller laufen als die Hirsche. Ich wollte der Schwermut entfliehen. Aber ich wusste nicht wie.

 

Wochen oder Monate vergingen, ohne dass ich mit meinem Vater mehr als ein paar Worte sprach.

 

Es brauchte eine Weile, bis ich zu begreifen begann. Ich erinnere, dass wir vor dem Haus auf der Wiese saßen und Vater neben mir an die Mauer gelehnt. Die Sonne strahlte warm auf uns herab. Die Schafe blökten und die Hütehunde bellten. Ich schloss die Augen und spielte wieder einmal auf meiner Penny Whistle, um meine Gedanken zu befreien. Ich war schon damals gut damit, trug sie immer in der Tasche mit mir herum. Da spürte ich die Hand meines Vaters auf meinem Arm. Er bedeutete mir mit einer Geste, ihm die Flöte zu geben. Als er vorsichtig begann, die Flöte zu spielen, erkannte ich meinen Vater aus der Zeit vor dem Krieg wieder. Und ich erkannte mich in den Melodien meines Vaters. Ich begriff, dass wir eine gemeinsame Sprache hatten, die der Große Krieg nicht hatte zerstören können. Von da an saß ich oft neben meinem Vater und wir lauschten wechselseitig unseren Melodien. Alles was wir nicht auszusprechen vermochten, konnten wir uns plötzlich mitteilen.

 

Wenn der Doc uns besuchte, schien er es zu verstehen.

 

Mit jedem Lied meines Vaters begann mein Zorn zu schmelzen. Ich begann zu begreifen, dass der wichtigste Teil meines Vaters doch heimgekehrt war. Alles Gas der Deutschen konnte ihn nicht zerstören.

 

Mein Hass auf den Doc begann sich langsam in Dankbarkeit zu wenden. Der alte Mann wurde zu einer festen Instanz im Leben unserer Familie. Wenn er von seinen Reisen heimkehrte, lauschten wir gebannt seinen Berichten von Afrikanern, Arabern, Asiaten und Indianern, von exotischen Tieren und gewaltigen Bäumen, die bis in die Wolken zu wachsen schienen. Die Geschichten des Doc eröffneten mir die Weite, in die ich aus meiner begrenzten Welt fliehen wollte.

 

Und dann schaffte es der Doc irgendwie, dass ich zum Aer Chór na hÉireann berufen wurde. Mir wuchsen Flügel. Meine kleine Welt wurde plötzlich grenzenlos.

 

Als ich meinen Dienst beim Aer Chór na hÉireann beendet hatte, fürchtete ich, in der Enge meines Elternhauses zu ersticken. Die Aussicht, nicht mehr fliegen zu können, ließ mich schier verzweifeln. Und für das Angebot, wieder fliegen zu können, hätte ich damals beinahe meine Seele verkauft. Stattdessen nahm ich Mutters Drängen die unvermittelt angebotene Stellung beim Doc an. Es gefiel mir nicht, dass meine Mutter den Doc ganz offensichtlich um Hilfe gebeten hatte. Aber den alten Mann vor diesem Irren zu schützen, der den Mord im Bootshaus begangen hat, erschien mir damals eine leichte Aufgabe und nur gerecht. Und die Aussicht auf weitere Reisegeschichten schien mir gerade das zu sein, was mich von meiner Sehnsucht nach dem Fliegen ablenken könnte.

 

Das war damals, bevor mich der Doc zu unterrichten begann. Der Doc meinte eines Tages, er könne mir zwar kein Flugzeug kaufen, aber er könne mir erklären, warum es fliegt. Der Doc begann mit den grundlegenden Erkenntnissen von Otto von Lilienthal über die Aerodynamik und die Bedeutung der Flügelkrümmung mit denen sich von Lilienthal gegenüber seinen Kritikern Helmholtz und Reuleaux durchsetzte. Er berichtete mir von den hierauf basierenden Erkenntnissen der Physik. Und so kam eines zum andern: Von der Physik kamen wir zur Astronomie und Geometrie, von dem Wunder, die natürlichen Grenzen des Menschen zu überwinden und in die Lüfte zu steigen zur Theologie, Literatur und Musik. Der Doc erzählte mir von Pionieren, die bereits vor vielen hundert Jahren Flugversuche unternommen haben, wie Abbas ibn Firnas, Eilmer von Malmesbury oder Hezarfen Ahmed Çelebi. So brachte er mich dazu, den Orient nun mit neuen Augen zu sehen. Er lehrte mich Ehrfurcht vor der Geschichte. Ich staune selbst, wieviel Türen der Doc in einem guten Jahr in mir aufgestoßen hat. Natürlich ist meine Bildung mehr als unvollkommen, dass wird mir jeden Tag mehr bewusst. Aber ich weiß heute den wahren Wert von Büchern zu schätzen und jeden Tag lerne ich hinzu. Der alte Fuchs hat meine Begeisterung für die Fliegerei als Köder benutzt. Anders als in der Schule lerne ich jetzt, weil ich es will, nicht weil ich muss.

 

Ich blicke erneut zu dem alten Mann herüber, meinem Lehrer … mehr noch: meinem Mentor … dem Menschen, der am ehesten die Lücke ausfüllt, die mein Vater hinterlassen hat.

 

Der Alte hat den Köder ausgelegt und ich habe ihn geschluckt. Der Haken sitzt tief in meinem Inneren und ich hänge an seinem Faden. Ich habe keine Ahnung was in der Richtung, in die er mich zieht, liegen mag. Wenn ich zurückdenke, wirken die Geschehnisse auf mich wie die mechanisch vorbestimmten Abläufe einer Spieluhr. Unvermeidlich erscheint mir dieser Tag, an dem ich im Scherz zu ihm sagte: „Dr. Savage, Sie müssen mir alles beibringen was Sie wissen!“

 

Der Doc sah mich eine Weile schweigend an, mit diesem ihm eigenen Blick, bei dem sich seine grünen Augen in einen unergründlichen, alles verschlingenden Ozean zu verwandeln scheinen, bis man meint, das Meer rauschen zu hören. Dann fragte er mich sehr ernsthaft: „Und was soll ich Dich lehren, das Schulwissen oder auch alles andere?“

 

„Das andere auch!“, sagte ich leichthin. Aber noch während ich es sprach, spürte ich, dass dies mehr als nur Worte waren. Das Gesagte hing wie ein Pakt im Raum. Hätte ich ihn mit Blut besiegelt, er wäre nicht bindender gewesen.

 

Am nächsten Tag begann der Doc, mich auch das andere zu lehren…

 

Noch immer frage ich mich, ob Savage mich irgendwie dazu gebracht hat, diese Worte zu sprechen.

 

Ein frostiger Schauer kommt über mich. Trotzig klopfe ich den Schnee von meinen Schultern.

 

Wieder blicke ich zu ihm herüber, falle einen halben Schritt hinter ihn zurück.

 

Seine Schultern vermitteln nicht den Eindruck von Stärke. Seinen Anzug füllt er nicht mehr so recht aus. Seine Haare sind vom Wind zerzaust. Und doch ist es gerade das, was ich zu schätzen gelernt habe. Ich habe von meinem Vater gelernt, dass in den Geschichten von Cú Chulainn zu viel von Kraft und Schnelligkeit, von Waffen und Siegen, aber viel zu wenig von Narben erzählt wird.

 

Schweigend gehen wir weiter durch die Straßen Cardiffs. Unsere Schritte knirschen im frisch gefallenen Schnee.

 

Ich würde jetzt gerne zur Küste gehen, von einer Klippe in die Ferne schauen und auf meiner Flöte spielen. … Aber ich sollte schlafen.

 

Morgen werde ich London sehen. Der Doc wird sich um die Auktion kümmern und vermutlich diese Freundin treffen: Matilde. War die Auktion wohl nur ein willkommener Vorwand für Dr. Savage, um diese Frau zu treffen? Er wirkt noch unruhiger als sonst, seit er den Entschluss zu der Reise gefasst hat. Ob seine Unruhe mit dieser Frau zusammenhängt? Der Doc hat nie von ihr erzählt, aber ich habe regelmäßig seine langen Briefe an ‘Matilde Stratton‘ zur Post getragen. Und dann dieses kostspielige Schmuckstück, das der Doc hat anfertigen lassen. Kalt und doch strahlend. Irgendetwas Bedeutsames scheint er … oder ihn? … mit dieser Matilde zu verbinden. Vielleicht eine Jugendliebe?, denke ich schelmisch und stelle mir eine alte Frau mit hängenden Schultern vor, wie Savage nur noch ein Abglanz ihrer selbst.

 

Ich lächle verstohlen, so absurd kommt mir der Gedanke einer rostigen Liebe in Anbetracht dieses alten Einsiedlers vor.

 

Vielleicht beunruhigt ihn diese Auktion? Der Doc hat alte Unterlagen und Zeichnungen von seinen Ägyptenreisen hervorgeholt und viel in Büchern und Niederschriften von archäologischen Vorträgen gelesen. Er scheint etwas zu suchen. Möglicherweise hat er Angst, auf der Auktion etwas zu finden, was besser unter dem Wüstensand und tonnenschweren Steinen begraben geblieben wäre …

 

Ich muss mir verwundert eingestehen, ein wenig gekränkt zu sein.

 

Warum hat der Doc mich nicht in seine Sorgen einbezogen? Schließlich ist es mein Job, ihn zu schützen. Aber vielleicht ist auch das nur ein Vorwand und die Aufgabe, die er für mich vorgesehen hat, ist in Wahrheit eine ganz andere?

 

Vielleicht sollte ich ihn morgen besser doch nicht aus den Augen lassen.

 

Aber er hat mir extra frei gegeben, damit ich den London Air Park besuchen kann. Ich muss einfach irgendjemanden finden, der mich seine Maschine fliegen lässt! Ich will endlich wieder den Wind unter den Flügeln spüren! Und selbst wenn ich nur den Geruch der Motoren rieche und den anderen zusehen darf, werde ich schon glücklich sein.

 

Wir erreichen die Queen Street und unsere Pension. Auf dem Flur verabschiede mich beim Doc. Noch einmal denke ich an die Küste und taste nach der Flöte in meiner Tasche. Ich lächle und schüttle den Kopf:

 

Jetzt bin ich schon wie der Alte mit seinen Schlüsseln!

 

Ich gebe mir einen Ruck und gehe auf mein Zimmer. Der Doc wird mich morgen sehr früh wecken, damit wir den ersten Zug nach London erreichen.

 

London, eine Stadt voller reicher Menschen, Menschen mit Extravaganzen, Männern mit schönen Frauen, mit schnellen Automobilien, mit Yachten … und ein paar davon auch mit Flugzeugen … Ich brauche nur ein wenig Glück!

Edited by Joran
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London

Dienstag, 07.01.1930

 

Clive

 

Ich blicke auf Cainnech auf der Bank mit gegenüber. Er hat sich an die Wand gelehnt, wo er mit geschlossenen Augen in sich zusammengesunken sitzt und vor sich hin döst. Der Zug fährt durch eine Schneelandschaft. Im Abteil ist es kalt. Meine Füße scheinen zu Eisklumpen erstarrt. Cainnech hat seine warme Fliegerjacke anbehalten. Jetzt wirkt es, als würde er in der Jacke versinken.

 

Schon eine Weile sehe ich die Häuser der Stadt an den Fenstern des Wagons vorübereilen. Wir haben London erreicht. London … ich werde wohl nie ein neutrales Verhältnis zu dieser Stadt entwickeln. Zu viele bittere Erinnerungen sind mit diesem urbanen Geschwür der menschlichen Zivilisation verbunden. Zu viele Schatten sind aus der verunreinigten Themse gestiegen, um sich in den düsteren Gassen der Armenviertel, in den Kellern und vergessenen Hinterhöfen zu verkriechen. Im Untergrund verborgen erstreckt sich die Kanalisation, aus der sich unglaubliche Mengen von Exkrementen und schlimmeren Ausscheidungen dieser Stadt in die Themse ergießen. Die Bewohner Londons haben den Fluss in einen gewaltigen Abort verwandelt. Aber die Tunnel, die zur Ableitung von Unrat dienen sollen, stellen auch ein Tor für andere unaussprechliche Abscheulichkeiten dar … Niemand vermag zu sagen, welches Gezücht inzwischen unter dieser Stadt lebt und wir Ratten an den Fundamenten der menschlichen Gemeinschaften wenige Meter darüber nagt. Niemand vermag zu sagen, an welchen blasphemischen Plänen dort verborgen vor den Blicken der Menschen langsam und beharrlich gearbeitet wird.

 

Die Bebauung hat sich zunehmend verdichtet. Ein schrilles Pfeifen von der Lok am Kopf des Zuges kündigt die Einfahrt in die Victoria Railway Station an. Cainnech schreckt auf und sieht sich ein wenig verschlafen um.

 

Kurze Zeit später ergießt sich ein Strom von Menschen aus dem Zug auf den Perron. Cainnech kümmert sich um das Gepäck. Ich gehe vor zum Zeitungsstand, an dem wir uns wiedertreffen wollen. Ich nehme den Geruch der vorübereilenden Menschen wahr, das Parfüm der Damen, den Tabakgeruch der Herren und die Mischung aus Schweiß und Alkohol der Arbeiter. All dies mischt sich mit den Ausdünstungen der nahen Themse, dem Rauch der Lokomotiven und dem Roststaub von den Schienen. Ein nicht enden wollender Strom von Gesichtern treibt an mir vorüber. Flüchtig lese ich in der Auslage des Zeitungsstandes die Schlagzeilen der Zeitungen. Meist geht es um einen Schusswechsel. Der Name ‘Weatherbys Bank‘ wird erwähnt. Offenbar ein Banküberfall. Ich beschließe, die Zimmerwirtin in der Pension um eine Zeitung zu bitten.

 

Aus den Portalen des Bahnhofs strömt die Eiseskälte Londons herein.

 

Einige Augenblicke später taucht schon Cainnech mit einem Kofferträger auf, der unser Gepäck auf einem Karren langsam vor sich herschiebt und sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnt.

 

Vor dem Bahnhof winkt Cainnech einem Taxi. Mir wäre eine Droschke lieber, aber ich habe mich an Cainnechs Begeisterung für Motoren gewöhnt. Kurz darauf halten wir vor der Pension. Das Gebäude und die Straße haben sich seit meinem letzten Besuch in London nicht verändert. Während Cainnech sich um das Gepäck kümmert und ein Dienstbote der Pension herbeieilt, begebe ich mich zur Rezeption. Als die schnippische Zimmerwirtin mich erblickt, nimmt ihr Gesicht einen schwer zu deutenden Ausdruck an. Zweifellos erkennt auch sie mich wieder.

 

„Da ist ein Brief für Sie gekommen. Ich habe ihn bereits auf Ihr Zimmer gebracht. Ich vermute, von dieser Frau, der ich damals einen Brief von Ihnen überbringen sollte.“ Die Stimme enthält einen feine Prise Anzüglichkeit, als die Zimmerwirtin von ‘dieser Frau‘ spricht. Ich beachte es nicht. Ich freue mich. … Matilde … von wem sonst könnte ein Brief sein, der hier auf mich wartet …

 

Ich bedanke mich freundlich und trage Cainnech und mich in das Gästebuch ein. Währenddessen fischt die Zimmerwirtin die zwei Schlüssel aus den Fächern in ihren Rücken und legt sie neben das Gästebuch.

 

„Frühstückszeit ist schon vorüber. Ich bedaure …“, meint die Zimmerwirtin ohne jeden Ausdruck des Bedauerns in der Stimme. „Wenn sie etwas wünschen, kann der Junge ihnen etwas aus dem Cafe nebenan besorgen.“

 

„Nein, danke. Wenn Sie noch eine Zeitung für mich hätten?“, frage ich höflich.

 

„Leider sind die Zeitung von heute bereits von anderen Gästen ausgeliehen worden. Aber der Page wird Ihnen für die Wartezeit das Abendblatt von gestern bringen. Die London Times von heute lasse ich Ihnen bringen, sobald ich eine zurückhabe.“

 

Mit Cainnech und dem Pagen schaffen wir das Gepäck auf die Zimmer. Nachdem der Dienstbote sein Trinkgeld erhalten, sich verbeugt und das Zimmer verlassen hat, bleibt Cainnech zurück. Verlegen steht Cainnech im Raum und wechselt von einem Fuß auf den anderen. Es ist unübersehbar, wie er innerlich mit sich ringt. Seine Augen glänzen vor Ungeduld.

 

„Hau ab, Cainnech! Wenn Du Dich beeilst, erreichst Du noch vor Mittag den London Air Park. Ich brauche Dich hier heute nicht mehr. Ich wünsche Dir viel Spaß!“

 

Kaum habe ich ausgesprochen, ist Cainnech auch schon aus der Tür.

 

Mein Blick schweift durch den weiß gekälkten Raum. Es ist dasselbe Zimmer. In der Ecke steht der kleine Tisch mit dem Stuhl. Darauf liegt, wie von der Zimmerwirtin avisiert, ein Couvert.

 

Ich stelle meinen Gehstock sorgsam an die Garderobe, hänge meinen Mantel auf und lege den Hut auf das Bett. Meine Hand streicht über die Westentasche mit der Uhr darin. Dann folgen meine Finger der Kette in meine Hosentasche. Alter Gewohnheit folgend schiebe ich den schweren Überseekoffer unter das Bett. „Wie so oft schon in meinem Leben … wie vor fast zwei Jahren in diesem Raum … wie auf Herm in meinem ‘Weißen Refugium‘, dass schließlich doch keine Zuflucht war …“

 

Mein Blick streicht nochmals über das beruhigende Weiß der Wände, um dann am Tisch und dem Couvert darauf hängen zu bleiben.

 

Langsam ziehe ich den Stuhl zurück und setze mich. Ich denke daran zurück, wie ich hier schon einmal gesessen und einen Brief an Matilde geschrieben habe. Seither hat sich einiges verändert. „Hugh … Hartmut, Heinz oder wie auch immer sein Name in Wahrheit lauten mag … wird vermutlich der alte geblieben sein. Aber vielleicht hat die Vaterschaft ihn verändert“, überlege ich. So recht daran glauben kann ich nicht. „Menschen, die so sehr sich selbst als das Maß der Dinge ansehen, sind selten gewillt, diesen Käfig aus Selbstverliebtheit zu durchbrechen. Aber letztlich ist Hugh damit ein Opfer seiner eigenen Unzulänglichkeiten, auch wenn er das nicht erkennen kann. Eine Schwäche nur, wenn auch eine unangenehme. Es wäre völlig aussichtslos, hieran etwas ändern zu wollen … es ist nicht erforderlich mit Hugh Freundschaft zu schließen … ein Waffenstillstand genügt völlig. Nur bedaure ich Matilde. Sie hat es sicher oft nicht leicht mit Hugh.“

 

Ich will nicht länger über Hugh nachdenken. Ich bin nicht seinetwegen hier.

 

Ich greife nach dem Brief. Ich erkenne die saubere Handschrift, mit der mein Name auf das Couvert geschrieben wurde. Ich nehme den Hauch eines Duftes von Matilde wahr, der dem Papier anhaftet. Sorgsam öffne ich das Couvert und lesen Matildes Botschaft:

 

„06.01.1930

 

Lieber Clive,

ich hoffe du bist wohlauf in London angekommen. Ich habe erst gestern Deinen Brief bekommen, und mich wirklich riesig gefreut.

Ich sehe, du wirst auch bei dieser Auktion da sein. Das nenne ich Schicksal, denn ich werde auch da sein, eigentlich aus beruflichen Gründen.

Hugh meinte, wir könnten uns bei dir im Hotel vorher treffen, so kann ich Dir auch Alexander zeigen. Der kleine Mann wird immer frecher!

Es sind keine einfache Zeiten, um ehrlich zu sein, alte Schatten sind wieder in meinem Kopf, du weißt, ein wenig habe ich dir von Norwegen ja erzählt.

Wir werden am 07.01 beim Mittagessen unten hier in Hotel sein.

Ich freue mich, Dich zu sehen.

 

Deine Freundin Matilde.”

 

Ich lächle. „Ja, ich freue mich auch!“

 

Sorgsam falte ich den Brief zusammen, um ihn später zu den anderen zu legen.

 

Dann greife ich zum Abendblatt.

Edited by Joran
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Ich lese einen Nachruf auf Dr. James Lionel Willburn.

 

Über seine Arbeiten habe ich früher gelesen.

 

Der Artikel bewertet es als ungerecht, dass Dr. Willburn die Annerkennung versagt geblieben, die Howard Carter nach dessen Entdeckung des Grabes von Tutanchamun im Tal der Könige zu Teil wurde. Ich frage mich, ob Dr. Willburn selbst das auch so gesehen hätte. In aller Regel kann einem Archäologen nichts schlimmeres passieren, als Gold zu finden. Mit dem Gold kommen die Plünderer, die Diebe, die bestechlichen Beamten ... Jeder versucht einen Teil vom Kuchen zu bekommen. Gegenstände von unersetzbaren archäologischem Wert verschwinden in Schmelztiegeln und Kunstschätze in den Hinterzimmern privater Sammler.

 

Ich schüttle den Kopf. "Nein, ich glaube nicht, dass Dr. Willborn über die fehlende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit traurig war. Und manche Geheimnisse aus der Geschichte der Menschheit ... entgehen besser der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit."

 

Ungeduldig falte ich die Zeitung zusammen und bleibe noch einen Augenblick unschlüssig sitzen. Mein Blick fällt auf das Couvert auf dem Tisch und die düsteren Gedanken verschwinden.

 

Ich atme auf und erhebe mich.

 

"Dann wollen wir mal!", sage ich zu mir selbst. Ich klemme mir die Zeitung unter den Arm. Nachdem ich das Zimmer sorgfältig verschlossen habe, gehe ich herab ins Restaurant.

 

Noch sind alle Tische frei. Es ist noch früh. Ich suche einen schönen Tisch aus und bestelle mir einen Tee. In aller Ruhe stopfe ich meine Pfeife. Vor dem Fenster eilen die Menschen. Ich bin ruhig und harre in Vorfreude der Dinge.

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Ich bin ein wenig nervös, als ich ins Restaurant reinkomme.

Ich freue mich wirklich, Clive zu sehen, und hoffe auch, Hartmut wird sich benehmen.

"Bitte, bennim dich, sonst bringe ich dich um. Wieder. Und diesmal zerstückle ich dich, stecke dich in einem Sack, und schmeisse dich in die Themse"

murmele ich lächelnd zu ihm, während ich seinen Arm halte.

Ich schaue nochmal dass seine Kravatte richtig sitzt, und die von Alexander auch.

Dann schaue mich um, und als ich ihn sehe, gehe ich zu ihm.

"Clive!" sage ich sichtlich erfreut.

"Da bist du ja..ich freue mich so dich wieder zu sehen!"

Ich warte bis er aufgestanden ist, und drücke ihn leicht.

Ich weiss, er mag sowas nicht, aber da musst er durch.

Ich lasse ihn aber sofort los.

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Als ich Matilde gefolgt von Ihrem Mann und Kind auf mich zukommen sehe, erhebe ich mich glücklich.

 

Ich lasse die Umarmung von Matilde etwas ungelenk geschehen. "Matilde, wie schön! Lass Dich erstmal ansehen ... gut schaust Du aus. Das Familienleben scheint Dir gut zu tun, wie ich sehe!"

 

Dann begrüße ich Hartmut freundlich: "Hugh, ich freue mich auch, Sie wiederzusehen. Und da ist ja auch der Sprößling auf Ihrem Arm. Ein strammer Bursche. Sie sind sicher stolz auf den Kleinen." Nachdem ich Hartmut die Hand gereicht habe, wende ich mich dem Jungen zu: "Hallo, Alexander! Du hältst Deine Eltern bestimmt ordentlich auf Trapp, wie?"

 

Ich lächle den Kleinen an. Erst versteckt Alexander sein Gesicht in der Schulter des Vaters. Aber gleich darauf schielt er unauffällig wieder zu mir herüber und ich zwinkere ihm verschwörisch zu. Mir gefällt der Kleine, wie er mich nun unsicher anlächelt. "Ich habe schon eine Menge von Dir gehört, kleiner Mann! Und ich sehe, Deine Mutter hat keineswegs übertrieben.

 

Aber wo bleiben denn meine Manieren? Setzen Sie sich doch!" Ich ziehe für Matile einen Stuhl zurück und winke der Bedienung.

Edited by Joran
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Ich fühle mich unbehaglich. So richtig unbehaglich. Und obwohl mir Kälte nicht viel ausmacht, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wenn ich das jetzt verbocke, grillt mich meine glutäugige italienische Schönheit im eigenen Saft. So viel ist klar. Und es war mir bereits klar, bevor sie mir ihre Gardinenpredigt gehalten hat. Sie hat mir ihre Benimmregeln wieder und wieder vorgebetet.

 

Da ist er also. Doktor Savage.

"Hallo Doc."

Gibt es in Irland keine Kämme? Und wenn doch, weshalb benutzt der Mann dann keinen?

Ich wische mir meine Hand an der Hose ab, bevor ich seine Hand ergreife und schüttele.

 

War das zu fest? Oder zu locker? Nicht, dass er denkt ich sei weich geworden. Er sieht älter aus.

"Hatten Sie eine angenehme Reise?"

 

Mir behagt das hier überhaupt nicht. Ganz und gar nicht.

"Hier in London ist es gerade fast so wie in Norwegen. Damals, als ich meine Frau kennenlernte. Überall Schnee und Eis." Ich lächele den Doc an.

 

"Oh Gott. Ich wünschte ich wäre jetzt dort." Als ich Matildes eisigen Blick sehe, weiss ich, dass ich den letzten Satz wohl laut ausgesprochen habe.

 

Versuch die Situation zu retten. Überspielen. Überspielen.

"DAS hier ist Alexander. Ist er nicht hübsch? Ganz die Mama. Sag 'Hallo' zu Doktor Savage, Alexander." Ich lächele erneut.

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Ich bin fassungslos, dass Hugh Norwegen anspricht! Die wenigen Andeutungen, die Matilde über ihre Erlebnisse in Norwegen mir gegenüber gemacht hat, lassen keinen Zweifel daran, dass diese Bemerkung sie wie ein Hieb getroffen haben muss. Ich sehe ihr versteinertes Gesicht.

 

"Ist das Unsicherheit oder will Hartmut auch dieses Treffen in einem Eklat enden lassen? Aber Unsicherheit ist sicherlich kein Attribut, dass ich mit Hartmut in Verbindung bringen würde."

 

Eine kurze Pause tritt ein, die peinlich zu werden droht. Ich weiß, dass ich mich hier nicht einmischen darf, auch wenn ich Hartmut gerne zurechtweisen würde. Es steht mir nicht zu. Zum Glück eilt in diesem Moment der Kellner mit den Karten herbei. Ich übergehe die Bemerkung von Hugh und halte an meinem Vorsatz fest, mich nicht über ihn zu ärgern.

 

Langsam kommt doch eine Unterhaltung in Gang. Wir beginnen mit Dingen des Alltags: dem Kälteeinbruch, der England fest im Griff hält, meiner Anreise, den kleinen Erlebnissen mit Alexander, den Fortschritten am Haus, ich erkundige mich nach Luni ... nichts was Spannungen zwischen mir und Hugh befürchten ließe. Hartmut und ich taktieren uns mit höflicher Distanziertheit. Wir umkreisen uns.

 

"Ist das ein Waffenstillstand oder wartet er nur auf seine Gelegenheit? Seine abfällige Meinung von mir wird sich kaum verändert haben." Ich versuche Hartmuts Verhalten zu verstehen.  "... Hat Hartmut einen Grund zur Sorge? Geht es Matilde doch nicht so gut, wie es mir scheint? Oder ist das etwa Angst, Matildes Erwartungen zu enttäuschen, die ich in den verstohlenen Blicken lese, die er Matilde zuwirft?" Ich zögere. "Ein Kind kann viel verändern, vermute ich. Es sollte die Liebe eines Paares vertiefen. ... Ich will glauben, dass der blonde Lebemann sich bemüht, Matildes Wünschen zu genügen ... und das wäre immerhin etwas, was ich ihm positiv anrechnen würde. ... Wenn es Waffenstillstand sein soll, bin ich dazu gerne bereit ... ein Waffenstillstand, den wir beide um Matildes Willen schließen würden: Hartmut, um Matilde nicht zu verärgern und ich, um Matilde nahe sein zu können.

 

Und immer wieder, wenn ich mit Hartmut spreche, fängt mich der Blick von Alexander ein. Der Kleine hat wache Augen. Natürlich sieht Alexander anders aus, als ich ihn mir in meiner Phantasie ausgemalt habe. Aber ich sehe doch sehr viel von Matilde in seinem Gesicht. Der Kleine scheint mich zu beobachten. Erst denke ich, mein Bart fasziniert ihn. Doch dann merke ich, dass es meine Augen sind, die er fixiert. "Was in dem Kopf des Knaben wohl vorgehen mag? Was denkt er, während er mich beobachtet? Was sieht er in meinen Augen?", überlege ich.

 

Ich lobe den Jungen überschwenglich. "Immerhin das scheint Hartmuts ... nun sagen wir: Vaterstolz ... zu befriedigen."

 

Matilde macht auf mich einen stabilen Eindruck, mitunter ist sie fast ein wenig ausgelassen. Ich denke an die vielen Briefe, die wir gewechselt haben. Ich denke an unsere Zeit auf Herm. An Augenblicke der Offenheit, in denen ich eine Ahnung von dem erhielt, was sonst in dem Schatten von Matildes Vergangenheit verborgen liegt. Nichts davon ist jetzt zu sehen. Nach außen scheint Matilde die Leichtigkeit in Person, perfekt in ihren Umgangsformen und jederzeit Herrin der Lage. Nur ab und zu meine ich in einem Ihrer Blicke mehr wiederzuerkennen, eine Andeutung der alten Vertrautheit. "Haben die Jahre der räumlichen Distanz diese Vertrautheit angegriffen? Ich hoffe nicht... Es gilt nur, das Eis zu brechen."

 

Wir plaudern weiter, als das Essen kommt.

Edited by Joran
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Ich erzähle Clive ein wenig von London, und die Arbeit im Büro, aber nicht zu viel, um ihn nicht zu langweilen.

Auch über Alexander erzähle ihn vieles.

"Er schläft immer noch nicht durch. Das ist echt hart, ich wünsche mir manchmal, ich wäre taub, um sein Geschrei nicht zu hören." ich lache kurz.

"Hugh macht sich auch gut an die Arbeit mit ihm, ich muss sagen, ich kann mich nicht beklagen." Ich nehme kurz Hartmuts Hand und drücke sie leicht.

Ich schätze sehr, seine Bemühungen hier auch.

Ich weiss wie schwer für ihn ist, seinen Mund zu halten.

Wahrscheinlich denkt sich wieder etwas über wie unpassend seine Kleidungen sind, oder was auch immer.

Aber er hält es durch.

Gut.

 

Wir essen gelassen, ich lasse auch Alex mit Clive ein wenig spielen, ich merke wie gerne er ihn hat.

Vielleicht hätte sich Clive auch einen Enkelkind gewünscht, in diesen Jahren.

 

Ich lächele bei dem Gedanken.

 

"Wieso kommst du zu Auktion? An einem besondere Stück interessiert? Ich war heute da. Beeindrückende Sammlung. Wirklich"

Edited by Nyre
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"Nun ... es war eigentlich eher ein Gefühl als Gewissheit. Die Zusammenstellung der Exponate hat meine Aufmerksamkeit erregt.

 

Ich weiß, das hört sich jetzt merkwürdig an. Als ich den Katalog gelesen habe, war es für mich, als stünde da noch etwas zwischen den Zeilen, was ich noch nicht greifen kann. Möglicherweise hat etwas eine Erinnerung angesprochen, ohne dass ich mir recht darüber im Klaren bin, welche. 

 

Sicher, es gibt einige Stücke, die interessant sind. Kunstwerke von besonderem Wert sind sicherlich der Sakralkelch, die Statue des Gotts Ganesha, die Unbesiegbare und die Königin der Nacht. Aber hierfür alleine wäre ich vermutlich nicht nach London gekommen. Drei Masken möchte ich mir genauer ansehen,  zwei Ritualmasken und eine Totenmaske. Solche Masken sind mir in der Vergangenheit bereits begegnet, wobei die ägyptische Totenmaske ... nun ja ... vielleicht ein SEHR außergewöhnliches Stück ist. Das alles KANN Touristennepp sein ... aber es könnten auch ... Schlüssel für Einsichten sein, die nicht jedermann zur Verfügung stehen sollten. Masken geben ihrem Träger für die anderen ein neues Gesicht, manchmal ist das aber nicht alles ... sie können auch die Sicht des Trägers verändern, ja selbst das Wesen des Trägers kann sich verändern ... Ich habe so etwas schon bei rituellen Handlungen von Eingeborenen gesehen. Wenn der Glaube an die Macht der Maske nur fest genug ist, kann sie in ihrem Träger Charakterzüge entfesseln, die ihn zu etwas anderem werden lassen."

 

Etwas verlegen blicke ich Matilde und Hartmut an. "Sicher, oft sind bei solchen Riten auch Rauschmittel im Spiel, aber kennt ihr das nicht auch, wenn ihr einen alten Gegenstand in die Hand nehmt und zu spüren meint, dass da etwas wie Erinnerungen an ihm haften geblieben ist ... Reminiszenzen an frühere Besitzer oder bedeutsame Ereignisse, die in die Materie gesickert und mit ihr eine Verbindung eingegangen sind?"

 

Ich schweige kurz und erinnere mich an die Berührung der Truhe mit ihrem Versprechen neuen Lebens, an die Berührung der Nägel in IHM, an das Gefühl, als ich zum ersten mal den Glanz der Falcata in der Dunkelheit des Grabes schimmern sah und sie für mich ergriff. Ich merke, dass eine Pause eintritt und lächle die beiden verlegen an.

 

"Macht das einen Sinn? Vielleicht ist es nur der verborgene Wunsch eines alten Mannes, einmal etwas zu hinterlassen, das an ihn erinnert. Ich weiß es nicht."

 

"Doch, ich weiß sehr wohl, dass es nicht nur eine Einbildung ist." Ich wechsele vorsichtshalber das Thema, bevor es peinlich werden kann, und komme zurück auf die Auktion.

 

"Da sind auch zwei Bücher, die ich mir ansehen will. Vermutlich nichts wertvolles. Aber manchmal entdeckt man in scheinbar profanen oder wirren Texten Spuren alter Überlieferungen, wenn man den ganzen Unrat, der über ihnen liegt, beiseite fegen kann. Die 'Dämonenkulte des Orients' und das Buch 'Unbeschreibliche Rituale' möchte ich etwas genauer in Augenschein nehmen.

 

Manchmal entdeckt man in solchen Sammlungen aber auch ganz unversehens Überraschungen, wo man sie gar nicht erwartet hat. Ich sehe mich einfach einmal um.

 

Eine zweite Chance werde ich vermutlich nie erhalten, denn die wirklich interessanten Stücke dürften meine finanziellen Möglichkeiten bei weitem übersteigen. Wenn der Hammer fällt, verschwinden die Gegenstände auf unabsehbare Zeit in der Versenkung. Mehr als diese eine Möglichkeit, mir eine Meinung zu bilden, werde ich also kaum haben.

 

Ich frage mich, wer diese skurrile Sammlung wohl zusammengetragen haben mag."

Edited by Joran
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Hans ist angespannt. Er hält den Mund und hört zu.

Das Gespräch plätschert dahin.

Es gibt wahrlich Themen, die Hans mehr interessieren, als die Themen, welche diesen Besuch begleiten.

Aber was tut man nicht alles. Der Friede in der Familie ist wichtiger als alles andere.

 

Das Essen ist gut, aber der Appetit fehlt.

Nahrungsaufnahme wird überbewertet.

Hans lässt sein Essen fast unberührt. Währenddessen trinkt er nur Wasser.

 

Alexander ist richtig ruhig für seine Verhältnisse. Er spielt an Hans Krawatte und beobachtet den Doc über den Tisch hinweg.

Alles ist gut. Alles ist so, wie es sein sollte...

Hoffentlich ist das bald vorbei.

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Ich nehme wahr, wie Hans lustlos in seinem Essen stochert.

 

Sein Schweigen ist so ausgedehnt, dass es langsam beredt wirkt. Die Langeweile und Lustlosigkeit stehen ihm ins Gesicht geschrieben. "Entweder Matilde hat ihm einen Maulkorb verpasst oder Hartmut ist noch schlechter in Konversation, als ich. Letzteres erscheint mir die unwahrscheinlichere Variante. Wenn das so weitergeht, wird sein Schweigen zur Belastung."

 

Ohne lange nachzudenken, spreche ich ihn direkt darauf an: 

 

"Entschuldigen Sie meine Direktheit, Hugh. Mir ist klar, dass Sie sich nicht auf meinen Besuch gefreut haben. Wir beide wissen, dass wir nicht aus dem selben Holz geschnitten sind, auch wenn wir uns kaum kennen. Darum danke ich Ihnen umso mehr, dass Sie diesem Treffen zugestimmt haben.

 

Ich plane nicht, länger in London zu verweilen. Nur ein paar Tage, an denen ich auch noch meinen Geschäften nachgehe, dann sind Sie mich schon wieder los. Die Situation ist nicht mehr die gleiche wie im vorletzten Jahr, weder für Sie noch für mich. Sie haben jetzt Ihren Sohn und auch meine Pläne haben sich seit damals geändert. Darum will ich gar nicht vorschlagen, dass wir einen neuen Anlauf nehmen, uns kennenzulernen. Wir müssen keine Freunde werden. Aber ich würde mich freuen, wenn wir beide das beste aus dieser überschaubaren Zeitspanne machen könnten.

 

Wie ich sehe, haben Sie keinen Appetit. Sind Sie eigentlich Pfeifenraucher? ... Vermutlich nicht ... nein, zu altmodisch. Sie bevorzugen sicher Zigaretten wie Matilde. Zu schade ... ich habe nämlich einen sehr aromatischen Tabak aus Mittelamerika dabei, den ich Ihnen sonst gerne angeboten hätte.

 

Sehen Sie, es ist auch nicht einfach für mich. Es ist schwierig ein interessantes Gesprächsthema auszuwählen, wenn man es mit einem ... nunja 'Phantom' ... zu tun hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe dafür vollstes Verständnis. Sie werden sehr gute Gründe für ihre Vorkehrungen haben. Aber vielleicht können Sie mir ein wenig entgegenkommen? ..."

 

"War das ein Fehler?", überlege ich. Aber ich vermeide es, zu Matilde zu blicken, sondern halte Hartmuts Blick stand.

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Das Essen scheint lecker zu sein. Zumindest wenn es nach Alexander geht.

Den Kartoffelbrei und die Sosse leckt das kleine Kind lustvoll und gierig von Hans Finger, den dieser immer wieder in das Essen auf dem Teller tunkt. Und dann nuckelt er genüsslich an Hans Finger.

 

Matilde und der Doc unterhalten sich. Sie verstehen sich prächtig. Ich nehme ihre Konversation kaum wahr. Hoffentlich fällt es nicht auf, dass ich mich mental ausgeklinkt habe.

Immer, wenn Clive Hans anschaut, lächelt dieser oder er nickt.

Gedanken, Befürchtungen und Ängste durchpflügen mein Hirn. Ich lasse mich dahintreiben.

Hans zieht die Augenbrauen zusammen und runzelt die Stirn.

 

War das mein Name? Savage? Hat er mich angesprochen?

Hans nickt.

Weshalb redet er jetzt mir MIR?

Hans lächelt und nickt erneut. "Das freut mich."

"...weder für Sie noch für mich." sagt er. Ich muss etwas antworten.

Hans nickt. "Sie haben sicher Recht, Doc. Es tut mir leid."

Ich habe jetzt nicht wirklich gesagt, dass es mir leid tut. Savage muss denken, ich sei weich geworden.

Hans drückt Alexander an sich. Der Kleine ist eingeschlafen.

"Nein danke, Doc. Ich bin Nicht-Raucher."

Sein Bart bewegt sich noch immer. "... ein wenig entgegenkommen?" Er hört nicht auf, zu erzählen.

"Natürlich. Ich werde helfen." Hans Stimme ist ruhig und leise.

Hans schaut auf etwas hinter Savage. Er wiegt Amexander auf seinem Arm.

Edited by Der Läuterer
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Es ist unverkennbar, dass Hartmut meinen Worten nicht wirklich folgt.

 

Seine Antworten ergeben kaum einen Sinn.

 

Er wirkt jetzt nicht mehr gelangweilt, vielmehr desorientiert ... verstört ... besorgt?

 

Plötzlich drückt er den Kleinen an seine Brust und blickt an mir vorbei. Ich höre, wie sich Matilde hektisch umwendet.

 

"Was ist hier los? Was ist da hinter mir? Will sich Hartmut nur einen Scherz mit mir erlauben? Nein, das würde er nicht tun ... wegen Matilde!" Ich stehe abrubt auf und schiebe dabei den Stuhl zurück, um mich umwenden zu können. Da ist sie wieder, diese Unruhe der letzten Tage, diese düstere Vorahnung. "Cainnech ist nicht hier ... zum Glück!"

Edited by Joran
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