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[Nightmare Files] Prolog - Die Anreise


Der Läuterer
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MAI 1927

 

Die letzten drei Tage in der Klinik vergingen wie im Flug. Heute ist der Tag. Der Tag der Abreise. Viele Abschiede. Trauer mischt sich mit Freude. Und mit Erwartungen.

 

Dann der Bahnhof von Lillehammer. Das Treiben dort ist überschaubar. Die Frauen tragen luftige Kleider und keine dicken Mäntel. Ihr erinnert Euch an damals. Einst. Vor Äonen.

Das weiss ist längst gewichen. Damals war es Samstag. Heute ist Freitag. Heute ist der 20ste des Monats. Damals war es der 19te.

Alles gleitet. Alles fliesst. Alles greift nahtlos ineinander. Die Schneewehen sind geschmolzen. Verschwunden im Nichts. Doch nicht wird jemals vergeben und vergessen.

 

Norwegen sieht so gänzlich anders aus im Frühjahr. So grün. So lebendig. So schön.

Zuerst liegt Lillehammer hinter Euch. Dann ist es Oslo. Die Zugfahrt ist völlig anders als die, die noch in Eurer Erinnerung schwelt. So entspannt. Ereignislos.

 

Hans ist da. Er hält die Hand der Contessa.

Und immer, wenn sie ihn anschaut, ruht bereits sein Blick auf ihr.

Freya ist da. Sie ist immer nah bei Paul. Aber nie zu nah, um nicht unzüchtig zu wirken. Nie zu fern, um immer noch seine Wärme zu spüren.

Euer Herz ist in diesen Momenten leicht wie eine Feder. Beschwingt. Und sorgenfrei.

 

Dr. Marc Andrews sitzt bei Euch. Er ist schweigsam. Dennoch aufmerksam. Wachsam. Er beobachtet. Und er liesst.

 

In der Zeitung steht nur Belangloses.

Der FC Everton ist englischer Fussball-Meister 1926/27. Die Mannschaft schlägt am letzten Spieltag West Ham United mit 7:0. Und Stürmer Dixie Dean wird mit 60 Toren Torschützenkönig.

In Budapest wurde der italienisch-ungarische Freundschafts- und Schiedsvertrag ratifiziert.

Und in Berlin kam es zu Provokationen und Belästigungen durch eine Partei Namens NSDAP.

 

Luni reist im Gepäckwagen des Zuges mit Euch. Der Wolf musste in einen Käfig. Und es war für sein Frauchen wahrlich weder einfach noch leicht, das Tier von dieser Notwendigkeit zu überzeugen.

 

Die Nordsee. Die Überfahrt. Dann der Hafen von Harwich in Essex. Der Parkeston Kai. Britischer Boden. Das Seaport-Hotel. Ein trauriger Abend. Die letzte Nacht mit Hans.

 

Dann der nächste Tag. Die Fahrt nach London. Das satte, dunkle Grün von Englands Wiesen und Wäldern.

Dann endlich. Die Metropole. London. Ein Moloch. Industrie. Pulsierendes Leben. Waterloo Station. Menschenmassen. Ein Schmelztiegel.

 

Noch eine gute Stunde Aufenthalt...

Edited by Der Läuterer
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Ich beobachte alles um mich herum, ziemlich still.

Meine Gedanken kreisen um alles was bisher passiert ist herum.

Der Abschied von Hans fiel mir sehr schwer zu.

Ich beobachte London, und das tröstet mich ein wenig. Vielleicht werde ich bald hier mit ihm untertauchen dürfen.

Dann schaue ich Paul an.

Ich will mich bei ihm bedanken, aber nicht jetzt wo Freya dabei ist.

Das letze was ich will, ist dass sie eifersüchtig ist, so wie in meiner Erinnerungen.

Ich lächele ein wenig.

"Wer holt uns ab?" frage dann Marc.

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"Niemand." Er schaut auf die Uhr.

 

"Noch 67 Minuten, bis der Zug nach Plymouth abfährt. Gleis 5."

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Gerade laufen wir an der Themese entlang, die einmal so viel schmutziger noch hat sein müssen zu einer Zeit, in der Leben per Massenware verdorben wurde. Einige Möwn trudeln über den stummen Fluten, Freya an meiner Seite, sie schweigt, ich tue es auch.

Dann: "Weißt du, dieser Ort ruft viele Erinnerungen hervor." Nicht nur gute, ergänze ich innerlich und fröstle leicht. "Ich bin so oft genau hier entlang gegangen, ohne zu sehen, wie alt hier alles ist." Pause. Das Kreischen der Möwen füllt die Leere, wie Freya den Sinn meines Lebens ausfüllen wird. "Am Morgen kroch immer der Nebel herauf, es war fast magisch, wie er einen umwaberte. Er war der Stoff der Mythen und Legenden. Manchmal merkt man erst, wie schön die Welt ist, wenn man die Augen einen Moment schließt." Ich trete eine Dosenkonserve in den Rinnstein, dann wende ich mich zu ihr. Die Melancholie hat meine Stimme verlassen und mein Gesicht strahlt überschwenglich: "Möchtest du meinen alten Arbeitsplatz sehen?"

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Freya ist sichtlich verwirrt. "Wir haben sicher nicht so viel Zeit, Paul. Wenn wir den Zug verpassen, bekommen wir Ärger. Wir beide. Der Doktor... Hast Du ihm gesagt, dass wir weg gehen?"
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"Nein", verwirrt lehne ich mich an eine Bank. "Nein, du hast wahrscheinlich recht. So recht." Ich blicke zu Boden. Dann schaue ich hoch, zerstreut, aber lächelnd. "Ein anderes Mal dann." Ich richte meinen Anzug, dann schlendern wir weiter. "Es ist ein Versprechen." Meine Augen fixieren die ihre.

 

Es ist ein Schwur, denke ich. Wichtiger als alles andere. Freya und ich werden hier leben. Und glücklich sein.

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Freya ist aufgeregt. "Aber erzähl mir davon, Paul. Du musst es mir nicht zeigen. Erzähl mir bitte jede Einzelheit. Erzähl mir, wie alles aussah. So wie Du es mit Deinen eigenen Augen gesehen hast. Beschreib mir die Geräusche und..."

 

Sie tänzelt um Dich herum. "Und die Gerüche. Du musst mir alles ganz genau beschreiben. Ich will alles wissen."

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Ich schmunzle vor mich hin, mysteriös, wissend. "Es roch nach Heimat. Die kleine Wohnung, in der ich schlief, aß und mich wusch, war wie eine unbedeutende Zwischenstation im Gegensatz zu meinem Arbeitsplatz - unserem Arbeitsplatz. Ha- ich meine Farid und ich haben alles zusammen gemacht. An Regentagen brachte er immer ein Stück Kuchen mit und zog mich damit auf, dass dies der Ausgleich zu meiner sauren Gesinnung sei." Ich lache und sehe ihn vor mir.

"Überall hing der Geruch von frischem grünen Tee, Farid war ein überzeugter Anhänger der heilenden Wirkung von Tee. Als ich ihn einmal probiert habe, musste ich zugeben, dass ich ihn zu unrecht jahrelang ausgelacht habe ..." Oh er konnte den besten grünen Tee machen ... "Das waren gute Zeiten. Doch ich schätze, dass meine nostalgische Ader" Ach so nennst du das jetzt also?! "verkennt, wie schäbig es dort eigentlich war. Staubwischen, putzen, das taten wir nicht für uns. Wir fühlten uns wohl, aber die Klienten sollten nicht das Gefühl bekommen, ganz unten angekommen zu sein." Wieder ein kleines Lachen.

"Alles knarrte und im Winter pfiff der Wind durch die Straßen und trug manchmal entfernte Schreie und Bellen zu uns. Natürlich haben wir uns das nur eingebildet. Der Wind ist sehr kreativ, wenn es darum geht, einem Angst zu machen. Und überhaupt wer wäre bei so einem Wetter schon raus gegangen? Wir jedenfalls nicht. Nicht selten schliefen wir gemeinsam auf der Couch oder dem Sessel, die beide nach Tabak rochen, nur um nicht den frostigen Weg zu unseren Zwischenwelten antreten zu müssen. Zwischen uns stand dann eine Petroleumlampe, die Heizung lief auf Hochtouren und gluckste ab und an ihren Part zu den Gesprächen, die sich entwickelten. Über Gott, die Welt und" Ich zögere. "die Menschen."

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"Das klingt nach einem einfachen Leben. Aber Du hattest sehr viel Freude an dem, was Du tatest. Das merkt man sofort. Aber es hört sich auch danach an, dass Ihr nur selten einen Auftrag hattet, oder?" Sie schürzt die Lippen. "Das muss eine entbehrungsreiche Zeit gewesen sein."

 

Freya greift Deine Hand. "Lass uns zum Zug gehen. Wenn der einen Speisewagen hat, dann kannst Du mir bei einem Tee mehr davon berichten."

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Ich habe mehr gesehen, mehr erlebt, als mir lieb ist. "Wie du möchtest. Aber dann musst du mir auch von dir erzählen. Es kann ja nicht sein, dass ich mich dir entfalte und von dir kaum mehr weiß als deinen Namen" Ich werde schwach und streiche ihr zärtlich über die Wangen. Für einen Augenblick frage ich mich, ob es nicht doch diese Hände gewesen sind, die Matilde im Keller der Lodge misshandelt haben. Nein, es war Dwight. Dwight, Dwight, Dwight. "und dein bezauberndes Lächeln."

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"Wie es Dir gefällt." Sie lächelt. "Mein Name ist Freya Solveig Brundtland."

 

Die blonde Frau macht einen neckischen, höflichen Knicks. "Ich wurde am 23. September 1903 im Osten von Oslo geboren; im Vorort Rødvedt."

 

Sie greift nach Deiner Hand. "Mein Vater heisst Torbjørn und ist Apotheker. Meine Mutter heisst Mia Synnøve, geborene Søbørg."

 

"Ich bin blond, blauäugig, 172 cm gross, wiege knapp 60 kg und bin Rechtshänderin." Sie zieht Dich mit sich.

 

Zieht Dich mit sich in Richtung von Bahnsteig 5. "Ich habe eine abgeschlossene Ausbildung als Krankenschwester und werde bald am Queen Mary College, King's College oder an der St. George's Hospital Medical School Humanmedizin studieren. Und zwar hier in London."

 

Wieder lächelt sie unwiderstehlich. "Noch Fragen, Herr Anderson?"

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Ein Zeitungsjunge läuft über den Bahnsteig. "Extrablatt! Extrablatt!"

 

Der Junge hält in seiner ausgestreckten rechten Hand eine dünne Zeitung. "Nur 5 Pence."

 

Und einen Stapel dieser Zeitungen unter dem linken Arm. "Der Amerikaner Charles Lindbergh hat im Non-Stop Flug den Atlantik überquert."

 

Dann geht der Junge weiter. "Extrablatt! Extrablatt!"

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Ohne etwas zu antworten, greife ich ihre Schultern und küsse sie. Egal, wie das aussieht, ich kann nicht anders. Ich denke nicht einmal daran, wer uns sehen könnte, und selbst wenn könnte ich mich dieser Handlung kaum erwehren.

 

Dann entferne ich meinen Mund. Mein Herz schlägt den rasenden Takt eines Liebenden. Ich lächle. "Hast du noch Fragen?" Der Sonnenschein lässt ihr Haupt erstrahlen. Sie ist wunderschön.

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"Nein, Paul. Keine Fragen. Überhaupt keine. Ich lasse alles auf mich zukommen. Wir werden sehen, was geschieht."

 

Wieder dreht sie sich wie eine Ballerina. "Und ich freue mich über das hier und jetzt. Mit Dir. Alles andere hat noch Zeit."

 

Dann werden Freya's Schritte schneller. "Komm schon, Du lahme Schildkröte. Ich kann den Zug schon sehen. Er wartet auf uns. Plymouth wartet."

 

Wieder dieses Lächeln. Dieses einzigartige Lächeln. "Unser Tee wartet."

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