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[Nightmare Files] Kapitel 6 - Der lachende Tod


Der Läuterer
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"Zehn kleine Ärzte,

die spielten gern am Meer.

Der eine fiel die Klippe runter;

drum gibt's ihn nimmermehr."

 

... gefolgt von einen Kichern.

 

Das Gehörte kommt aus der Halle, irgendwo von unterhalb der Galerie oder des Treppenaufgangs.

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"Miststück!" sage ich laut.

"Wo hats du das gefunden? Kann das sein, dass sie schon einen Weg für uns gebildet hat?"

Paul zeigt es mir still.

Ich laufe schnell dahin.

"nur eine Minute, gentelmen"

Ich schaue mich hektisch herum.

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"Mit 'Besessenheit' hat das wenig zu tun!", antworte ich etwas heftiger, als gewollt. Einerseits kränkt mich ein wenig die in diesem Wort enthaltene Bewertung meines Verhaltens als unangemessen, vor allem aber macht mich das Lied des Kindes zornig. Noch immer macht Amanda ihre Scherze über den Tod anständiger Menschen und noch immer meint diese kleine Göre, uns manipulieren zu können. Und dass sie hiermit bislang Erfolg hatte und nun bei der Contessa erneut Erfolg zu haben scheint, macht es nicht einfacher, ruhig zu bleiben.

 

Aber es fällt mir diesmal leicht, meinen Zorn zu bändigen. Andersons Worte machen mich nachdenklich.

 

Erneut verwirren mich Mr. Andersons Andeutungen und seine Sichtweise der Geschehnisse. 'Besessenheit'? Ich will nicht akzeptieren, von diesem Kind 'besessen' zu sein ... weder in dem von ihm gemeinten übertragenen Sinn noch im wörtlichen Sinne. Dieser kleine Teufel darf keinen Besitz von mir ergreifen!

 

Aber Anderson verwendet oft extreme Formulierungen. Er scheint in Superlativen zu leben. Vor allem, wenn er über seine Erlebnisse mit der Contessa redet, scheint er getragen von zwiespältigen Gefühlen keinen Mittelweg zu finden. Die Ambivalenz scheint ihm nur extreme Sichtweisen zu gestatten. Heute morgen im Speisesaal schien Anderson außer sich vor Angst, nachdem er die Hilferufe der Contessa gehört hatte. Er flehte Dr. Livingstone geradezu an. Und als Dr. Warner erwähnt wurde, geriet er völlig außer sich und brüllte:

 

'LASSEN SIE DIESEN KERL NICHT IN IHRE NÄHE!'

 

Ich verstehe nun, warum Anderson beunruhigt war, aber die Heftigkeit seiner Reaktion ist Beweis für seine starke emotionale Bindung an die Contessa ... emotionale Bindung oder nicht doch vielleicht schon Abhängigkeit ... Obsession ... BESESSENHEIT?

 

Mir gehen weitere Sätze Andersons durch den Kopf: 

 

'Matilde ist keine gute Frau - doch bin ich auch kein guter Mann. Ich habe Angst, dass es bei ihr wieder losgehen könnte.'

 

'Was ist, wenn es wirklich stimmt, wenn es stimmt, wenn es stimmt, Mr. Savage, es könnte stimmen und dann und dann wird sie es mir niemals verzeihen - ICH werde es mir niemals verzeihen.'

 

'Ich habe ihn nicht umgebracht, Mr. Savage, glauben Sie mir das. Er war mein bester Freund, er war mein bester Freund, mein einziger Freund, nun habe ich Matilde, nur noch Matilde, doch jeder will sie mir wegnehmen und ich will ihr fern bleiben, doch es geht nicht. Irgendwie geht es nicht, denn immer - immer wenn ich es versuche, kommt sie zu mir zurück.'

 

'Matilde! Hast du irgendeine Ahnung, wo der Dreckskerl hin verschwunden ist? Etwas, was mir weiterhilft, ihn zu finden. Er muss zur Rechenschaft gezogen werden!'

 

Und jetzt:

 

'Matilde und ich haben bereits einmal den Fehler begangen, vorschnell zu urteilen und deswegen musste ein Mann sterben ...'

 

Anderson scheint alles auf die gemeinsame Vergangenheit mit der Contessa zu beziehen. Offenbar haben die beiden gemeinsam extreme Erfahrungen durchlebt. Aber ist das alles, was die beiden verbindet, Freundschaft und eine Leidensgemeinschaft? Ist das alles, was Anderson für die Contessa empfindet?

 

Ich kann nicht abstreiten, Andersons Gefühle in gewisser Weise nachempfinden zu können ... obwohl ich die Contessa erst wenige Stunden kenne. Die Contessa hat ... eine besondere Ausstrahlung ... die den Wunsch weckt, ihr zu helfen, sie zu beschützen. Aber geht das, was Anderson empfindet, nicht weit über solche Gefühle hinaus? Will er die Contessa für sich ganz alleine besitzen?

 

'jeder will sie mir wegnehmen und ich will ihr fern bleiben, doch es geht nicht'

 

Ich frage mich, ob Anderson möglicherweise künftig einmal eine Bedrohung in mir sehen könnte. Wie würde er reagieren, wenn die Contessa sich mir anvertrauen sollte. Wie hätte er reagiert, wenn er das Gespräch eben auf dem Flur gehört hätte, wenn er die flüchtige Vertraulichkeit der Berührung unserer Hände gesehen hätte?

 

Wozu könnte Anderson fähig sein, wenn er sich in seiner Obsession bedroht sieht?

 

Ich habe das Gefühl, mich auf dünnem Eis zu bewegen. Ich nehme mir vor, vorsichtig zu sein, um Anderson nicht unnötig zu provozieren, bis ich ihn besser einschätzen kann. Noch ist er für mich ein Buch mit sieben Siegeln...

 

Ich seufze, als ich der Contessa nachblicke, wie sie anmutig die Treppe herabgeht.

Edited by Joran
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Matilde

 

Du gehst schnellen Schrittes die Treppe hinunter. Du beeilst Dich. Schnell drehst Du Dich am Fuss der Treppe nach links und schaust unter den Treppenaufgang...

 

Niemand ist hier. Das Kichern hatte bereits aufgehört, als die Stufen unter Deinen Schritten knarrten.

 

Alle Türen in der Halle stehen sperrangelweit offen. Auf beiden Seiten.

Die Türen zu den Büros, die Tür zum Speisesaal und die zur Küche.

Immer noch singt Caruso...

 

Und Du siehst eine weitere offene Tür. Die Tür unter dem Treppenaufgang, neben dem grossen Schrank in der Halle.

 

Am Boden vor dem Schrank liegen zwei weitere Papierschnipsel...

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Du nimmst den Tonabnehmer von der Schellackplatte und der Tenor im Speisesaal verstummt.

Die Stille ist erschütternd. Final. Fast schmerzhaft... fast.

 

Dann gehst Du zurück in die Halle.

 

Aus dem Raum hinter der Tür unter der Treppe hörst Du jetzt deutlich ein Geräusch...

 

Ein klapperndes klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack... immer wieder...

Das Geräusch hört sich an, als käme es von einem Spielzeug. Einer dieser aufziehbaren Musik-Affen, die zwei Becken gegeneinander schlagen.

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Die zwei Zettel passen zu dem einen, den Du bereits von Paul bekommen hast.

Alle drei Schnipsel zusammen ergeben die erste Seiter Deiner Akte.

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Unschlüssig stehe ich auf der Galerie und beobachte, wie die Contessa die Papierfetzen einsammelt ... weiße Scherben ihrer beschädigten Seele ...

 

Das Bild berührt mich und erfüllt mich zugleich mit Traurigkeit, denn es wirkt auf mich wie der hilflose Versuch der jungen Frau, durch das Zusammenfügen der Seiten auch die Sprünge in ihrem Inneren zu heilen.

 

Der Damm bricht. Meine treueste Gefährtin über all die Jahre, diese tiefe Traurigkeit, die auf wundersame Weise ebenso Inspiration wie lähmende Last sein kann, die stärkste der mir verbliebenen Empfindungen, die mir beweist, dass ich noch lebe, weil sie den Tod herbeisehnen lässt, durchflutet mich und füllt die innere Leere. Ich gebe mich ihr bereitwillig hin.

 

Es fällt mir schwer, den Blick von dem Bild unter mir abzuwenden. Ich weiß, dass dieses Bild eines derjenigen ist, die bleiben, die nachts wiederkehren, wenn ich wach auf meinem Bett liege. Aber ich zwinge mich, immer wieder in den Flur mit den Ärztezimmern zu sehen, die Tür am anderen Ende des Flurs in den Augen zu behalten, die vermutlich zu der kleinen Treppe führt. Amanda soll keine Chance erhalten, dort noch etwas zu verändern, zu stehlen, zu zerstören, sofern sie uns nicht ohnehin bereits zuvorgekommen ist.

 

Ohne Anderson anzusehen, sage ich ruhig: "Ich glaube, wir sind alle drei ... jeder auf seine Weise ... nur noch wenig mehr als ein Haufen Scherben unserer Selbst. ...

 

Es ist schon erstaunlich, dass das Schicksal uns hier und heute auf diese Weise zusammengeführt hat. Zu welchem Zweck frage ich mich ..."

 

Ich merke, wie sich meine Gedanken verselbständigen und von der Traurigkeit mitreißen lassen. Und nun, da ich ein alter Mann bin, läuft es immer auf die gleichen Fragen hinaus:

 

"Glauben Sie an einen Gott, Mr. Anderson? ... an das Schicksal? ... an eine höhere Macht?

 

Meine Eltern waren religiös. ... In ihren glücklichen Tage wie auch in den Tagen der Not.

 

Mein Glaube war zu schwach. Er ist unter der gleißenden Sonne Afrikas zu Asche verbrannt. Aber in manchen Augenblicken scheint sich ein kleiner Rest davon wie ein Phönix aus der Asche zu erheben. Ein Funke Hoffnung, dass mein Leben nicht gänzlich vergebens war.

 

Falls das heute unser letzter Tag sein sollte, haben wir dann unseren Beitrag geleistet? ... Oder hinterlassen wir nicht mehr, als das ...", ich deute herab, "... ein paar verstreute Fetzen aus Papier?"

 

Bevor Anderson antworten kann, ruft die Contessa.

 

Ich seufze. "Hat Amanda damit wieder gewonnen?"

 

"Gehen Sie nur, Anderson. Ich werde hier oben aufpassen, dass Amanda sich nicht an den Ärzteräumen zu schaffen macht. Sie kann ja schließlich nicht schon überall gewesen sein", ermuntere ich Anderson mit routiniert gespielter Leichtigkeit. Aber ich merke, wie meine Hand auf dem Griff des Messers ruht. Und hinter der Fassage spüre ich eine traurige Gewissheit in mir wachsen, dass mein Leben vorüber sein wird, wenn es zum Äußersten kommt, ganz gleich was geschieht ... letztendlich wird Amanda mich dann besiegt haben.

Edited by Joran
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"Schon gut..ist nichts besonders.." sage ich mit gebrochener Stimme.

 

Ich drehe mich wieder zu der Halle

 

"Wenn du mal Mut hast, komm zu uns, MISTSTÜCK!" rufe ich zornig.

 

Edited by Nyre
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Du nimmst wahr, dass die Abstände bei dem Geräusch grösser werden...

klack-klack ... klack ... klack ... ... klack ... ... klack ... ... ... klack... und es dann schließlich verstummt...

... um nach einigen Augenblicken wieder unvermindert zu erklingen... klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack...

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Mit einem unbestimmbaren Gefühl in der Magengegend, mustere ich Savage einen Augenblick. Die tiefe Verzweiflung, die sich durch seinen Körper windet, die Melancholie, die ihn zur Trägheit zwingen will, der unheilvolle Wunsch, an etwas glauben zu können. Wäre das nicht schön, wie all die Schafe unsichtbar geführt zu werden? Unter einem schmeichelnden Licht, einem höheren Etwas - kein direkter Lenker, ein Begleiter, ein Freund -, dem man sich anvertrauen kann, ganz egal in welcher Not man sich befindet?

Wäre es nicht schön, nicht denken zu müssen? Entscheidungen zu treffen und diese verwirklichen zu können und sei es auch nur in einer Illusionswelt? Wäre es nicht schön "... die Stimmen abzuschalten, Mr. Savage? Sich formen zu lassen, zu einem glücklichen Selbst, mit dem man nicht auskommen muss, sondern mit dem man leben kann?" Ich schaue auf sein Messer herab und sehe ihm dann fest in die Augen, ehe ich mich umdrehe und ihn hadernd allein lasse. Sein Märtyrium ist das unsrige. Ist das Meinige. Er wird sich wundern, was aus ihm werden wird; kann entscheiden, ob es einen Gott für ihn geben kann.

 

Mein Gott ist das Leben, das in all seinen Gestalten - real oder nicht real - umherschreitet. Mein Götzendienst ist meine Aufmerksamkeit, mein neugieriger, doch häufiger entsetzter Blick, der sich auf dieses oder jenes richtet, ohne genau bestimmen zu können, ob es von Belang ist oder nicht. Der Part, den ich leiste, lässt sich schnell zusammenfassen: Ich vergifte. Nach der Therapie dachte ich, geläutert zu sein, dachte, über meine Zerrissenheit erhaben zu sein, glaubte zu spüren, worum es geht. Das traurige Resümée wird mich niemals erfüllen, und ich werde niemals ein Ziel erreichen, das ich mir künstlich an die Spitze setze. Matilde? Freya? Etwas aufhalten, was sich jederzeit als irreal entpuppen könnte? Macht es mir Spaß, mich zu winden?

Ich bin eine Wundertüte des Lebens, prall gefüllt mit Scherzartikeln kruder Natur, doch irgendwan reißt die Tüte vollends, lässt sich nicht mehr flicken, nicht beruhigen, lässt sich nicht pflegen oder selbstbeweihräuchern; sie wird sich nicht verschließen durch eine Selbsterkenntnis oder Rationalität. Ich bin gewankt zwischen purer Tollheit und scharfer Brillianz, habe geglaubt, durch Buße rein zu werden oder durch Verwandlung vergessen zu können. Die Fatalität hinter allem, mein Gott, das Leben, tut, was ihm gefällt und niemals das, was man ihm vorgibt.

Und manchmal - Mein Blick klebt an Matildes Rücken. Gleich bin ich bei ihr. - da bin ich so unendlich froh über diese Tatsache. Denn wenn ich daran denke, wie entgeistert sie war, als ich sie auf dem Boot geküsst habe, glaube ich, dass auch sie das innerlich spürt und ihre Dankbarkeit sehr gut verbergen kann.

 

"Komm wir suchen weiter, Matilde. Vielleicht finden wir woanders etwas."

Edited by Blackdiablo
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Der Raum ist klein und liegt in völliger Dunkelheit gehüllt vor Dir.

Vom Eingang aus rechts führt eine breite, steinerne Treppe in die Gedärme der Insel...

...möglicherweise aber auch einfach nur in den Keller des Sanatoriums. Klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack...

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