Jump to content

[Nightmare Bites] Kap.1: SCHÖNE AUSSICHTEN ODER STEILES KARRIEREENDE


Der Läuterer
 Share

Recommended Posts

Auf der Strasse applaudieren die Schaulustigen, als Du langsam die Drehleiter hinab steigst und den festen, sicheren Boden betrittst. Du schnaufst. Du hechelst, Du hustest. Du würgst. Und Du atmest schliesslich, für Deine Lungen ungewohnte, saubere Luft. Dein Gesicht und Deine Kleidung sind russgeschwärzt und teilweise angesengt und abgekokelt. Als Du Dich jerade etwas erholt hast, geht ein Knacken durch die Fassade des Chelsea Hotels. Gefolgt von einem Dröhnen und einem Donnern. Dann bricht unter dem Gerschrei auf der Strasse ein grosses Stück, in einer immensen Staubwolke, tosend in die Tiefe und kracht auf den Asphalt.
  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

Ich falle fast nach hinten um, als ich plötzlich keine Sprosse mehr unter meinem linken Fuß spüre, sondern tatsächlich festen Boden. Diese Erfahrung trifft mich unvorbereitet. Ich habe ganz vergessen wo ich bin und bin langsam und mechanisch die schwankende Leiter hinabgeklettert.

 

Sofort nehmen mich erst Feuerwehrleute, dann umstehende Passanten in Empfang. Man klopft mir aufmunternd auf die Schulter und es wird nach einem Sanitäter oder Arzt gerufen. Doch ich bekomme das alles kaum mit. Ich stiere mit glasigem Blick geradeaus und halte weiter das Bündel im Arm. Jeder Versuch der Umstehenden Rettungskräfte und Passanten mir diesen vermeintlichen Ballast aus den Armen zu nehmen schlägt fehl. Meine Muskeln pressen die Bücher an meinen Körper und es ist selbst für mich unmöglich das Bündel aus dem Arm zu legen. Ein Sanitäter flößt mir Wasser ein, das ich auch ergeben hinunter schlucke. Es schmeckt furchtbar. Nach Ruß, Rauch, Schmutz und Gift. Dennoch ist es eine Wohltat.

Jemand legt mir eine Decke über die Schultern und sofort beginnt sich wieder die Hitze in mir zu stauen. Ich habe wieder das Gefühl oben in der verrauchten, überhitzten Suite zu sein. Ich würde die Decke abschütteln, wenn ich wüsste, dass diese mir die Erinnerungen zurückbringt. Doch ich sitze dort und lasse alles willenlos mit mir geschehen. Nur meine Kameratasche und das Bücherbündel in meinem Arm lasse ich nicht gehen. Ich sage nichts, ich werde nicht hektisch, doch merken alle am Versteifen meiner Glieder und an dem schon fast unmenschlich festen Griff um die besagten Gegenstände, dass sie mir diese Dinge nichtmal mit Gewalt entwenden können.

 

Nur sehr sehr langsam beginne ich zu realisieren, was um mich herum passiert. Bevor ich aber wirklich verstanden habe, was hier passiert ist - soweit das überhaupt möglich ist - geht ein lautes Krachen und Bersten durch das Hotel und das Grollen einer Lawine in der Ferne setzt ein. Erst als Steine und Splitter auf die Straße prallen und die Menschen aufgeregt Schreien und Kreischen, realisiere ich, dass auch hier unten etwas furchtbares passiert. Alles was ich tue ist vermeintlich teilnahmslos zu dem Chaos zu schauen und ich sage mit ruhiger aber von den Strapazen und dem Rauch heiserer Stimme: "Vorsicht! Gehen sie da doch weg!"

  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

Der Staub lichtet sich kaum merklich. Ein paar Augenblicke später kommen zwei Gestalten aus dem Nebeneingang des Chelsea Hotels gestolpert. Matilde ist russgeschwärzt und staubbedeckt.

 

Matilde sieht kleiner aus als sonst. Sie geht gebückt.

 

Sie humpelt auch leicht.

 

Neben ihr schreitet ein grosser Feuerwehrmann, der die gebeugte Matilde winzig und unbedeutend erscheinen lässt.

 

Ihre Kleidung ist angesengt, verdreckt und zerschlissen. Alles völlig ruiniert.

 

Sie sieht alt aus. Aschfahl und stumpf sind ihre Haut. Ihre Haare sind grau gefärbt.

 

Schwarz und russverschmiert ist ihr Gesicht; besonders ihre Augen. Sie sieht aus wie eine wandelnde Leiche. Ein Totenschädel. Ein Geist. Ein Gespenst.

 

Sie macht einen geschwächten und mitgenommenen Eindruch. Sie stolpert mehr, als dass sie gehen würde. Sie schlurft und schleppt sich voran. Immer weiter. Schritt für Schritt. Wie ein zum Tode Verurteilter zum Schafott.

 

Am linken Unterarm ist Blut zu sehen. Frisches Blut.

 

Und sie hält sich eine Atemschutzmaske vor ihr Gesicht...

  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

"Wir sind bereits unten, junge Frau. Unten auf der Strasse. Sie sind jetzt in Sicherheit. Ich bringe Sie zu den Rot-Kreuz-Sanitätern."
Link to comment
Share on other sites

"Ruhig. Bleiben Sie ruhig. Zuerst geht es für Sie erst einmal zu den Sanitätern." Er deutet mit der Hand in eine Richtung. La Main Droite, bitte sehr."
  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

"Ich begleite Sie. Es ist etwas weiter hinten. Rechter Hand..."
  • Like 1
Link to comment
Share on other sites

Clive

 

Als ich den Applaus der Schaulustigen höre, läuft mir zunächst ein Schauer über den Rücken. Meine jüngsten Erfahrungen sagen mir, dass die Begeisterung des Pöbels auf Londons Straßen selten mit meinen Empfindungen in Einklang zu bringen sind. Es würde mich nicht wundern, wenn die Menge begeistert auf eine halsbrecherische Aktion irgendeines von Todesangst getriebenen Hotelgastes reagiert. Kurz darauf höre ich eine weitere Scheibe zerbersten und weitere Trümmer fallen laut polternd auf die Straße. ... Nur Trümmer?

 

Zögerlich wende ich meinen Blick von der gegenüberliegenden Häuserzeile ab und sehe Ove Eklund am Leiterwagen. "Er hat es geschafft ... bis jetzt ..." Mein Blick gleitet wieder zu den Häusern. Ich habe ein merwürdiges Gefühl von Orientierungslosigkeit und Distanz zu den Geschehnissen um mich herum, als würde ich in umgekehrter Richtung durch eine Fernglas blicken.

 

Von dem Schützen ist unverändert nichts zu sehen. "Haben wir uns die Schüsse nur eingebildet?", frage ich mich verunsichert.

 

"Aber wenn ja, wo ... und wann hat der Traum begonnen. Seit Tagen scheint die Welt doch schon aus den Fugen." Ich überlege kurz, denke an die vielen kleinen Details, die mich verstört haben. "Eigentlich schienen die Dinge nicht mehr normal, seit dem Auftauchen dieser Erscheinung ... dieses Mönchs ... in der Queen Street. Das Verhalten von Hartmut, wie er uns aus dem Restaurant auf die Straße getrieben und alleine mit dem Taxi fortgeschickt hat, das Verhalten des Taxifahrers, das Benehmen der Witwe Loock, der exzentrische Auftritt des Lord Penhew, die Szenerie in der Schneiderei, die Visitenkarte, das Benehmen der Menschen im Pub, das Vorgehen der Polizei und das unverständliche Verhalten der Schaulustigen im Krankenhaus .... und ... ja, leider auch die Umstände, dass Matilde mich als ersten in ihre Schwangerschaft eingeweiht hat, dass sie sich so gut mit Cainnech versteht, dass sie sich von Hartmut abgewandt hat und mit mir nach Irland kommen will ... selbst die Stille in meinem Kopf und das Wiedererstarken meiner Kräfte ..." Das alles erscheint mir plötzlich völlig surreal.

 

"Es kommt mir vor, als wären hier all meine Ängste und meine Wünsche zum Leben erwacht. ... So ist es in einem Traum ... so ist es NUR im Traum ... Oder erscheint mir das alles jetzt nur so befremdlich und unverständlich, weil ich noch immer unter den Folgen der Rauchvergiftung leide?"

 

Dann höre ich Matildes Stimme und ich entdecke sie zwischen den Menschen. Suchend schaut sie sich um. Ich bin verunsichert, bin wie angewachsen, winke nur kurz mit der Hand. Aber Matilde kann mich hier, weit abseits des Geschehens, kaum entdecken. "... wenn das überhaupt Matilde ist und nicht nur ein Bild meiner Phantasie ..."

 

"Ich habe einmal etwas über Theorien gelesen, wonach man auch im Traum überprüfen könne, ob man sich in einem solchen befindet. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, wie das funktionieren sollte ... oder ist auch das nur eine eingebildete Erinnerung?"

 

Ich fühle mich hilflos und schwach ... alleine abseits der Menschentraube.

  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

Ich sehe Clive nicht, Ove auch nicht. Wahrscheinlich werden sie auch gerade schon versorgt.

Ich folge dann den Mann, passe aber auf, was ich um mich herum sehe.

"Da oben, ich habe es auch ihrem Kollegen gesagt, da hat jemand auf uns geschossen" sage ich so ruhig ich nur kann.

Er musst mich ernst nehmen.

Mir ist leicht schwindelig.

Endlich sehe ich so etwas wie einen Krankenwagen.

  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

Clive

 

Matilde kommt mit einem Sanitäter in meine Richtung. Meine Gedanken bleiben fahrig: "Sie bietet einen mitleiderregenden Anblick. Vermutlich ist meine Erscheinung nicht minder erbärmlich, nur dass mein Äußeres nie viel Eindruck gemacht hat." Unwillkürlich lächle ich, aber das Lächeln verschwindet ebenso schnell wie es kam, als ich mir vorstelle, wie sich mein rußverschmiertes Gesicht zu einer diabolischen Fratze verzieht ... mit versengtem Bart und roten Augen ... als käme ich direkt aus der Hölle. "Mit etwas Glück sehe ich aus wie ein Bergmann nach der Schicht ... schwarze Haut und weiße Zähne ... schwarze Haut und weiße Zähne ... schwarze Haut, weiße Zähne, Feuer, ein mordlüsternes Publikum ... wie ..." Ich höre das Knistern der Flammen im Hintergrund und sehe seinen wabernden Widerschein der alle Schatten zum tanzen bringt. Ich schließe kurz die Augen, um die erwachtenden Bilder zurückzudrängen.

 

Als ich meine Augen wieder öffne, verdeckt der Krankenwagen meine Sicht auf Matilde ... eben der Krankenwagen, der mir vorhin im Vorbeigehen bereits aufgefallen ist, weil es der gleiche zu sein scheint wie jener in der Riding House ...

 

"Wie lange ist das tatsächlich her? Tage? Oder nicht länger als ein unwillkürliches Lidzucken? ... Der Krankenwagen ist noch so eine Merkwürdigkeit ... oder vielleicht nicht? Was, wenn es tatsächlich die gleiche Ambulanz ist? Was, wenn das kein Zufall ist? Was, wenn eben dieser Wagen schon in der Riding House auf Matilde gewartet hat?"

 

Mein Herz pocht. Lähmende Angst keimt in mir auf. Meine Hand fährt in die Tasche ... aber meine Lightning ist nicht dort. Düster erinnere ich mich, wie ich sie Matilde gegeben habe. Ich will Matilde warnen, will ihr etwas zurufen, aber wieder überschlägt sich meine Stimme und ich bringe nur ein Krächzen zustande.

 

Dann will ich zum Krankenwagen laufen ... aber ich schleppe mich tatsächlich in gebeugter Körperhaltung, schwer atmend und hustend dahin ...

Edited by Joran
  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

Nachdem sich Matilde, bei den Sanitätern einer Ambulanz, hat verarzten lassen, kehrt Sie mit Clive und Ove zur Pension in der Queen Street zurück.
  • Like 1
Link to comment
Share on other sites

PENSION LOOCK
110 Queen Street
Inhaberin: Witwe Elischeva Loock
Donnerstag, 09.01.1930          

 

Clive

 

Wir alle sind kraftlos und schweigsam. Geprügelte Hunde auf dem Rückzug. Resigniert von dem neuerlichen Misserfolg. Jeder hängt seinen eigenen trübsinnigen Gedanken nach. Mancher hängt mit den Menschen zusammen, die wir nicht schützen konnten ... mit den persönlichen Verlusten, die jeder von uns in den letzten Tagen erlitten hat ... Alexander ... Kristine ... Cainnech. Unsere Schritte werden durch den Teppich verschluckt, als wir den Flur entlang gehen. Die Geräusche sind gerade laut genug, um das Schleppende unseres Gang zu entlarven. Die gedämpften Laute der Schritte machen die Sprachlosigkeit umso schmerzlicher bewusst. Ich versuche, die Stille mit der Erinnerung an Cainnechs Flöte zu vertreiben, aber es gelingt mir nicht, eine seiner Melodien in meinem Kopf zum Leben zu erwecken.

 

Es gibt nichts zu sagen, um diese Stille zu durchbrechen: Nichts, was wir nicht alle ohnehin wüssten. Nichts, was unsere Lage erträglicher machen würde. Nichts, was einen Funken Hoffnung in unsere Herzen pflanzen könnte. 

 

Die Tür zu meinem Zimmer am Ende des Ganges scheint in weite Ferne gerückt, als wäre der Flur seit heute Morgen in eine vierte Dimension gewachsen. Und auf dem Weg dahin liegt die Tür zu Cainnechs Zimmer. Die Tür ist wie eine Anklage ohne Wort und Schrift. Alleine ihr Anblick trifft mich unerwartet hart. Ich bin froh, dass Matilde noch neben mir sein wird, wenn ich die Tür passiere. Nur die letzten Meter von Matildes Tür bis zu meiner werde ich alleine gehen. ... Warum verursacht der Gedanke, alleine zu sein, mir Unbehagen? Dieses Gefühl ist neu für mich. Schließlich war ich die meiste Zeit meines Lebens alleine. ...

 

Nein, das ist nicht wahr. Schon seit meiner Jugend war ich nicht mehr wirklich alleine ... Ich überlege, wann ich zum ersten Mal das Rauschen des Meeres gehört habe ... was ihre ersten Worte waren. ...

 

Und den größeren Teil meines Lebens war da neben der Stimme dieses Bewusstsein IHRER schweigenden Gegenwart in mir. ... Die Liste unserer Verluste ist lang.

 

Ich werfe einen kurzen Blick auf Matilde neben mir. Ihre Nähe tröstet mich. Und doch beginnen meine Augen gerade bei diesem Gedanken zu brennen. Wird es ein Leben in Irland geben? Wird es das Leben sein, dass ich mir erhofft habe? Werden die Verluste auf uns Lasten? Wer immer die Jagd auf uns eröffnet hat, warum sollte er an Londons Grenzen damit aufhören? Ich denke an das unschuldige Leben neben mir, wie es langsam im Verborgenen wächst. Weil das Leben sich nicht aufhalten lässt. Ich denke an die Schnitzereien auf der Truhe. Und in diesem Moment glaube ich nicht, dass wir dieses neue Leben schützen können. Ich bin zu erschöpft, um wütend sein zu können. Zu niedergeschlagen, um an Gegenwehr zu denken. Es wäre auch unsinnig, sich gegen einen Feind wehren zu wollen, den man weder sieht noch kennt. ...

 

Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte das Hotel nicht verlassen ... Selbst dieser Gedanke fühlt sich nicht mehr so vertraut an, wie er sollte. Und vielleicht ist diese Erkenntnis noch am ehesten geeignet, Zorn in mir zu entfachen ... später ... wenn die Spuren des Feuers verschwunden sind und ich mich ausgeruht habe.

Edited by Joran
  • Like 3
Link to comment
Share on other sites

 Share

×
×
  • Create New...